Die Trollblume

© Andrea Marchetti

An einem Abend schien der Mond auf die Alpwiese. Auf einem zarten Nebel saß eine Schar Elfen; die ließen sich sachte über die Bergmatten fahren. „Guter Mond!“ rief eine Elfe ihm zu, „wie schön, daß du in der Nacht unseren Garten beleuchtest. Wie wäre es sonst trüb und finster hier unten.“ Merkwürdig, der Mond, der sonst so gütig war, gab heute eine etwas brummige Antwort und meinte: „Ihr Elfen sagt mir wenig Dank dafür. Auf euren Alpmatten habt ihr rote, weiße, blaue Blumen gepflanzt; aber von meiner gelben Farbe sehe ich nichts. Dem Mond habt ihr keine Blume gegeben; alle sehen aus wie Sterne: Edelweiß und Enzian. Ist keine einzige gelb und rund. Mich habt ihr vergessen.“

© Andrea Marchetti

Nach diesen Worten zog der Mond ein Wölklein vor sein Gesicht und war nicht mehr zu sehen. Erschrocken schauten die Elfen einander an. Ja, der Mond hatte recht. Nirgends war eine gelbe Blume, überall Sternenformen. Die Elfen schwiegen. Keine wusste, was sagen. Und siehe, jetzt zog der Mond noch eine dichtere Wolke vor sein Gesicht, daß er völlig verschwand.

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Finsternis legte sich über den Berg. Kaum konnten die Elfen einander noch sehen. Da flüsterte eine: „Kommt alle mit hinunter zur Waldwiese, wo unsere Königin weilt. Wir wollen sie fragen, wie wir den Mond wieder versöhnen können.“ Also flogen sie im Reigen tiefer zu Tal. Unterwegs trafen sie einige Schwester an, die bei den Blumen schliefen. Eilig wurden sie aufgeweckt und mitgenommen. Das gab  eine große Versammlung unten in der Waldwiese zwischen hohen Bergtannen.

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Die Elfenkönigin ließ sich genau erzählen, was mich mit dem Monde zugetragen hatte. Wie sie alles vernommen hatte, nickte sie mit ernstem Gesicht und sagte: „Liebe Elfen, der Mond hat recht. Wir müssen ihn wieder versöhnen. Sobald es dämmert, sucht in den Niederungen der Täler nach gelben Blumen. Gelb wie der Mond sollen sie sein. Vielleicht lässt sich aus der einen oder anderen eine rundliche Blüte formen, daß sie aussieht wie ein kleines Mondkind. Sollte uns dies gelingen, wollen wir dem Mond davon eine große Schar auf die Alpwiese pflanzen.“

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Am Morgen suchten die Elfen überall in den Tälern nach gelben Blumen. Da war der Löwenzahn, aber der ließ seine Strahlenform nicht verwandeln. Die gelben Schlüsselblumen waren auch nicht zu brauchen; noch viel weniger die Sonnenblumen oder gar die gelben Taubnesseln. Schon rückte es gegen Mittag. Traurig und müde rasteten einige Elfen am Waldrand. Da flog eine Biene daher und setzte sich zu ihnen. „Bienchen, liebes Bienchen“, flüsterte Spitzelfe, „weißt du uns eine gelbe Blume mit großem Blättern?“ Die Biene antwortete: „Kennt ihr im Walde beim Quellenbach die Gelbsterne? Einige ragen aus dem Wasser heraus, andere stehen am Ufer. Mit den Wurzeln greifen sie in den Boden des Bächleins. Ihre grünen Blätter schwimmen auf dem Wasser. Wie Goldsterne leuchten die Blüten. Die jungen Blütenknospen sind kugelrund.“

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Kaum hatte die Biene dies gesagt, erhoben sich die Elfen munter und riefen durcheinander: „Bienchen, geh voran, diese Blume könnte uns dienen. Zeig uns den Weg, wir fliegen mit!“ Die Biene war ganz erschrocken über die Aufregung der Elfen und dachte: „Was wollen die mit einer gelben Blume? Ich bin wohl zu dumm, das zu verstehen. Aber den Elfen tu ich gerne zu lieb, was ich kann.“ Also flog die Biene voran in den Wald, bis zu der verborgenen Waldwiese, wo der Quellenbach floß. Das gab ein Jubeln, als die Elfen die gelben Bachblumen erblickten. „Laßt uns die Goldsterne zu Kugeln formen, rund wie der Mond; kommt, wir wollen sie ‚möndeln’.“ Da strichen sie mit ihren Händen außen herum um die Blütenblätter, drückten sie zusammen, ließen ihre feinen Zauberkräfte wirken und summten dazu immer: „möndele, möndele, möndele…“ Es ging nicht lange, so waren aus den Goldsternen gelbe Blütenkugeln geworden. Drei Elfen machten sich auf den Weg, ihre Königin herbeizurufen, drei andere wurden ausgeschickt, Zwerge als Helfer zu holen.

© Andrea Marchetti

Als die Königin herbeikam, gefielen ihr die herrlichen Goldkugeln gar wohl. Die Zwerge aber wackelten an den Stengeln und kicherten fröhlich. Zwerg Raruck riß geschwind eine der Kugeln ab und rief: „Kommt, Brüderchen, wir spielen Ball!“ Da flog die Kugel in hohem Bogen über die Wiese, wurde gefangen, aufgeworfen, eine zweite, eine dritte gesellte sich hinzu. Erschrocken sahen die Elfen dem Treiben zu und fürchteten, die Zwerge würden ihnen jetzt alles abrupfen. Da gab die Königin dem Zwergältesten ein Zeichen. Hell erschallte sein Silberpfeifchen. Etwas unwillig versammelten sich die Zwerge um ihn. Einige nahmen gleich die Bällchen unter dem Arm mit. Die Zwerge waren ganz erwärmt und angeregt, schnäuzten sich und schnappten nach Luft.

© Andrea Marchetti

„Brüderchen“, sprach der Älteste, „die Blumenkönigin hat uns nicht rufen lassen, damit ihr hier alle Goldkugeln abreißt. O nein! Hört zu, was sie uns sagen will!“ Es wurde ganz still auf der Wiese; nur das Bächlein plätscherte. Die Königin sprach: „Liebe Zwerge! Gelt, das Goldballspiel ist schön; aber für heute möchte ich euch um etwas anderes bitten. Seht, diese Blumen haben die Elfen für den Mond geformt, damit er auch seine Mondblumenkinder hier auf Erden hat. Würdet ihr jetzt die Wurzeln in der Erde lockern und uns helfen, die Pflänzlein herauszuheben und droben auf den Bergmatten einzusetzen? Es wird gewiß nicht lange gehen, vermehren sie sich, und es gibt Tausende von Goldkugeln; dann könnt ihr nach Herzenslust Goldball spielen!“

© Andrea Marchetti

Die Zwerge nickten einander zu, und der Älteste sprach: „Liebe Elfen, gerne sind wir bereit, euch zu helfen und wir werden Sorge tragen, daß keine Kugel verloren geht beim Hinaufpflanzen.“ Ein Pfiff und alle Zwerge krochen zu den Wurzeln, stießen und lockerten, rückten, schoben und hoben die Pflanzen zur Erde hinaus. Zwei und zwei trugen den Wurzelstock dem Berge zu; aber immer flog auch eine Elfe mit. Wenn die Zwerge etwas holperten, so hielt sie schützend die Hand an Stengel und Blüte, daß nichts breche. Oben pflanzten sie die Blumen zwischen die Alpengräser, gossen wohl auch etwas Wasser bei, und bevor der Mond aufging, war die Alpweide überdeckt von Goldköpfchen.

Unbekannt

Noch verhüllte eine dunkle Wolke den Mond und verbarg ihm die Sicht auf den Berg. Mit Spannung warteten die Elfen darauf, ob er bald ihr Werk richtig bemerken und deuten würde. Spitzelfe meinte: „Vielleicht glaubt der Mond, das seien seine Eier.“ Alle lachten. Mit eins verzog sich die Wolke hinter den Berg und gab den aufsteigenden Mond frei. Sein Silberlicht fiel auf die Bergmatten und erleuchtete hundert gelbe Mondblumen. Verwundert schaute er hernieder; dann aber begann er zu lächeln. Er bemerkte die Elfen, blinzelte ihnen freundlich zu und sprach: „Das habt ihr gut gemacht! Lauter kleine Mondkinder habt ihr mir geschenkt. Ich will gut zu ihnen schauen und mit meinen Strahlen helfen, die Blätter schön rund zu streicheln.“

Unbekannt

Erfreut sprangen die Elfen hervor und begannen einen Reigen zu tanzen.  Fröhlich sangen sie:

„Mit Hilfe der Zwerge, den munteren Trollen,
Haben wir’s vollbracht.
Trollblume soll sie heißen,
Die wir schufen über Nacht.“

Und so ist der Name geblieben. Ein Zwerg hat dies einst einem Sennen erzählt, und der Senne sagte es seinen Kindern. Und heute noch erfreuen die gelben Mondkugel- blumen den Wanderer auf den Bergmatten.
– Jakob Streit –

Ein Märchen, das das Kind in mir immer wieder gerne liest, auch heute noch … und die Trollblumen dazu … die liebe ich auch!

Herzlichst

Evelyn

Mentorin auf Zeit


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