EVA

© Andrea Marchetti

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Sie brauchte sich um absolut nichts zu kümmern. Für alles war gesorgt und alles war bestens. Eva lebte im Paradies.

Doch dann kam das mit dem Apfel, der keiner war. Man könnte sagen, dass Eva sich vom ältesten und raffiniertesten Werbeslogan aller Zeiten hat verführen lassen.

„Iss vom Baum der Erkenntnis und du wirst sein wie Gott“. Genialer geht’s nicht. Dagegen sind die heutigen Slogans, die über die Bildschirme flimmern („Brauche diese Creme und du siehst 10 Jahre jünger aus“ – „Kaufe dieses Auto und du bist in der Gilde der Angesehenen“), nichts als kalter Aufguss.

„Du wirst sein wie Gott“. Eva konnte dem nicht widerstehen und wir Heutigen könnten es wohl auch nicht. Warum? Weil es der Werbung immer wieder gelingt eine Urtriebkraft des menschlichen Verhaltens zu kitzeln. Nämlich das Bedürfnis nach Existenzerweiterung. Der Drang, unsere Existenz zu erweitern, ist neben dem Bedürfnis der Existenzsicherung das zweite Metabedürfnis.

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Existenzsicherung ist ein weiter Begriff. Dabei geht es nicht nur um die Sicherung der körperlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf. Es geht um die Sicherung aller Güter und Beziehungen, die wir als wertvoll erachten. Die Sorge um den Erhalt all dessen, was uns wichtig ist steckt wohl hinter dem Satz „Ich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist“. Der utopische Wunsch Unzähliger. Nur: ist eine gesicherte Existenz auch eine erfüllte Existenz?

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Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Leben würde jetzt in diesem Augenblick eingefroren. Sie und alle, die Sie kennen, würden ewig leben und Sie bräuchten nie mehr Angst zu haben, etwas zu verlieren (Ihre Eltern, den Partner, die Stelle, Ihr Vermögen etc.). Alles, was Ihnen lieb und teuer ist, würde Ihnen erhalten bleiben und Ihre Existenz wäre rundum auf alle Zeit gesichert. Wären Sie dann wirklich glücklicher?

Man stelle sich vor, jeder Tag, wäre wie der andere, die ewige Wiederkehr des Gleichen, keine Verluste, aber auch keine Gewinne, kein Ab, aber auch kein Auf. Alles, so wie es jetzt ist. Das soll uns glücklich machen? Wohl kaum. Weil wir unser Glück letztlich nicht im Bestehenden finden. Das wird schnell zur Selbstverständlichkeit und Routine. „Glück ist das Bewusstsein des Wachsens“, sagt der Arzt Alexander Lowen.

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Ich denke, wir sollten die Geschichte von Eva einmal von einer anderen Seite sehen. Als sie nach dem angeblichen Apfel griff, tat sie unter den gegebenen Unständen das einzig Vernünftige. Sie nutzte die Chance, über sich selbst und die bestehende Existenz hinaus zu wachsen. Diese Chance war doch das Risiko, das Paradies zu verlieren total wert. Denn was ist ein Paradies wert, wenn es keine Herausforderung mehr gibt, keine Risiken, keine Anstrengung, kein Auf und Ab, keine Wachstumsmöglichkeit?

Goethe soll einmal gesagt haben, dass nichts schwerer zu ertragen sei, als eine Reihe von guten Tagen. Diese Aussage hat die heutige Jugendkultur auf den Slogan „no risk – no fun“ umgeschrieben.

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Man muss nicht unbedingt ein Anhänger des Freudschen Triebkonzeptes sein, doch ist die Dialektik von Sicherheit und Glücksempfinden nicht von der Hand zu weisen und für jeden von uns erfahrbar.

Intensive Glücksgefühle entstehen doch nur mit Erfahrungen, die über das, was wir existenziell als gesichert ansehen, hinausgehen. Indem wir etwas als gesichert betrachten, geraten wir angesichts dieses Objektes nicht mehr in Ekstase. Das heisst nicht, dass wir beispielsweise unsere Stelle nicht schätzen und unseren Lebenspartner nicht wertschätzen. Wir werden vielleicht angesichts unseres Partners ein Gefühl des Wohlbehagens empfinden, aber er versetzt uns nicht mehr in den Rauschzustand, den wir damals bei seiner „Eroberung“ verspürten.

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Das ist keine Aufforderung zu Seitensprüngen aber ein Beispiel für den psychologischen Grund, warum sich menschliches Glück so schnell verflüchtigt. Selbst erfahrenen Glückssuchern ist es bisher nicht gelungen, gefundenes Glück in Einmachgläser ab zu füllen um es für längere Zeit zu konservieren. Glück hat eine äusserst kurze Halbwertzeit.

Ich denke die Lösung liegt in der persönlichen Existenzerweiterung. Was möchte ich noch gerne wissen, lernen, tun, haben, sein? Das gibt eine endlos lange Liste. Und das gibt Perspektive – und die Aussicht auf glückliche Augenblicke.

Roger Eyer


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