Scham und die Detailbesessenheit
17. Juli 2012 von admin | kein Kommentar
Die Detailbesessenheit ist ein weiterer Denkprozeß, der die Stimmung verändert. Viele Zwangsneurotiker geben sich dieser Art der geistigen Aktivität hin. Mir fällt dazu das Beispiel einer meiner Klientinnen ein. Sie beklagte sich bei mir darüber, daß andere Menschen sie langweilig fänden. Ich bat sie, mir etwas mehr darüber zu erzählen. Das folgende ist eine bearbeitete Form ihres Berichtes. Sie erzählte:
„Also, ich wollte eigentlich zu diesem Termin mein blaues Seidenkleid anziehen, aber ich hatte vergessen, daß es in der Reinigung war. Ich bin mit unserer Reinigung überhaupt nicht zufrieden. Früher waren sie so gut und hatten vernünftige Preise. Sie haben zwei gute Jacken meines Sohnes Bobby völlig ruiniert. Aber es ist schwer, Bobby dazu zu birngen, daß er ein bißchen mehr auf seine Sachen achtet. Er ist genau wie sein Vater. Sie sind bequem und beide ziemlich schlampig. Das macht mir so lange nichts aus, wie sie in der Küche Ordnung halten. Das ist meine Macke, die Küche muß sauber sein. Weil ich doch da soviel Zeit verbringe. Heute morgen hat mein Mann vergessen, den Deckel auf die Cornfllakes-Dose zu legen. Er mag am liebsten die grob gemahlenen-Maisflocken, Bobby ißt lieber diese Weingarten-Maisflocken … wissen Sie, die bekam man früher …“
Wenn Sie nicht schon eingeschlalen sind, kann ich weiter machen. Nach 15 Minuten döste ich langsam ein. Mein Gott, war das langweilig. Ich unterbrach sie und konfrontierte sie ganz behutsam mit ihrer Detailbessessenheit. Sie war süchtig nach Einzelheiten. ….
Meine Klienten war Opfer körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt geworden. Als sie von ihm (dem Vater) weggelaufen war, hörte sie nicht mehr auf zu reden. Aber ihr ständiges Reden und ihre Detailbesessenheit hatten nur den Sinn, sie vor ihrer unerträglichen Scham und Einsamkeit zu schützen.
Diese Art von Bessesenheit ist ein weit verbreitetes Element aller Co-abhängigen Beziehungen. Wenn man sich ständig wie ein Besessener mit seinem, Partner, mit seinen Kindern oder seinen Eltern beschäftigt, beschäftigt man gleichzeitig seinen Kopf und vermeidet die Gefühle. Beziehungen können in enormer Weise süchtig machen. Die einen wechseln von einer schlechten Beziehung zur anderen oder bleiben in einer Beziehung, die destruktiv und lebensschädigend ist. „Liebe“ ist ein mächtiger Stimmungsveränderer und kann süchtig machen.
Aus: Wenn Scham krank macht
Diese Detailbesessenheit kenne ich aus meinem Umfeld sooooooo etwas von gut. Sie ist absolut weit verbreitet und ist mehr als nervend. Seltenst, daß wirklich DER Punkt geklärt wird, der gerade zu klären ist. Anstrengend sind diese Menschen – und alles andere als „einsichtig“, dass sie ein Problem haben. Hier ist wirklich wichtig, daß professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird.
Ein erster Schritt kann dabei sein, eine Gruppe der Anonymen Co-Abhängigen zu besuchen, genau wie es die Gruppen für die Anonymen Alkoholiker gibt. Diese Gruppen gibt es überall, bestimmt auch in Deiner Nähe. Vielfach werden sie auch in Krankenhäusern angeboten. Es ist eine große Erleichterung festzustellen, daß dieses Verhalten kein „Einzelfall“ – und Hilfe somit möglich – ist. Und auch da spreche ich absolut aus er- bzw. gelebter Erfahrung – als Co-Abhängige/r ist man/frau offen für AlkoholikerInnen.
Schon Karlfried Graf Dürckheim sagte so zutreffend:
Es gibt kaum etwas, das dem westlichen Menschen so fehlt wie die Stille, kaum etwas, das ihm so schwer fällt, wie die Übung der Stille. Der Lärm hält uns in seinem Bann, der Lärm der Welt, aber mehr noch das innere Getön der uns bewegenden Sorgen, der unterdrückten Gefühle, Süchte und Sehnsüchte, vor allem aber das Stöhnen, das aus der Spannung zu unserem unbefreiten Wesen stammt.
Herzlichst
Mentorin auf Zeit