Der Baum – eine Metapher oder Realität?

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Es war einmal ein Gärtner. Eines Tages nahm er seine Frau bei der Hand und sagte: “ Komm, Frau, wir wollen einen Baum pflanzen.“  Die Frau antwortete: „Wenn du meinst, mein lieber Mann, dann wollen wir einen Baum pflanzen.“

Sie gingen in den Garten und pflanzten einen Baum. Es dauerte nicht lange, da konnte man das erste Grün zart aus der Erde sprießen sehen. Der Baum, der eigentlich noch kein richtiger Baum war, erblickte zum ersten Mal die Sonne.

Er fühlte die Wärme ihrer Strahlen auf seinen Blättchen und streckte sich ihnen hoch entgegen.  Er begrüßte sie auf seine Weise, ließ sich glücklich bescheinen und fand es wunderschön auf der Welt zu sein und zu wachsen.

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„Schau“, sagte der Gärtner zu seiner Frau, “ ist er nicht niedlich unser Baum?“ Und seine Frau antwortete: „Ja, lieber Mann, wie du schon sagtest: Ein schöner Baum!“ Der Baum begann größer und höher zu wachsen und reckte sich immer weiter der Sonne entgegen. Er fühlte den Wind und spürte den Regen, genoss die warme und feste Erde um seine Wurzeln und war glücklich.

Und jedes Mal, wenn der Gärtner und seine Frau nach ihm sahen, ihn mit Wasser tränkten und ihn einen schönen Baum nannten, fühlte er sich wohl. Denn da war jemand, der ihn mochte, ihn hegte, pflegte und beschützte. Er wurde geliebt und war nicht allein auf dieser Welt.

Also wuchs er jetzt ein wenig nach links. „Schau“, sagte der Gärtner zu seiner Frau, „unser Baum wächst schief. Seit wann dürfen Bäume denn schief wachsen, und dazu noch in unserem Garten? Ausgerechnet unser Baum! Gott hat die Bäume nicht erschaffen, damit sie schief wachsen, nicht wahr, liebe Frau?“ Seine Frau gab ihm natürlich recht. „Du bist eine kluge und  gottesfürchtige Frau“, meinte daraufhin der Gärtner.

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„Hol also unsere Schere, denn wir wollen unseren Baum gerade schneiden.“ Der Baum weinte. Die Menschen, die ihn bisher so lieb gepflegt hatten, denen er vertraute, schnitten ihm die Äste ab, die der Sonne am nächsten waren. Er konnte nicht sprechen und deshalb nicht fragen. Er konnte nicht begreifen.

Aber sie sagten ja, dass sie ihn lieb hätten und es gut mit ihm meinten. Und sie sagten, dass ein richtiger Baum gerade wachsen müsse. Und dass Gott es nicht gern sähe, wenn er schief wachse. Also musste es wohl stimmen. Er wuchs nicht mehr der Sonne entgegen..

„Ist er nicht brav, unser Baum?“ fragte der Gärtner seine Frau. „Sicher, lieber Mann“ , antwortete sie, „du hast wie immer recht. Unser Baum ist ein braver Baum.“ Der Baum begann zu verstehen. Wenn er machte, was ihm Spaß und Freude bereitete, dann war er anscheinend ein böser Baum. Er war nur lieb und brav, wenn er tat, was der Gärtner und seine Frau von ihm erwarteten.

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Also wuchs er jetzt strebsam in die Höhe und gab darauf acht, nicht mehr  schief zu wachsen. „Sieh dir das an“, sagte der Gärtner eines Tages zu seiner Frau, „unser Baum wächst unverschämt schnell in die Höhe. Gehört sich das für einen rechten Baum?“ Seine Frau antwortete: „Aber nein, lieber Mann, das gehört sich natürlich nicht. Gott will, dass Bäume langsam und in Ruhe  wachsen. Und auch unsere Nachbarin meint, dass Bäume bescheiden sein müssten, ihrer wachse auch schön langsam.“

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Der Gärtner lobte seine Frau und sagte, dass sie etwas von Bäumen verstehe. Und dann schickte er sie die Schere zu holen, um dem Baum die Äste zu stutzen. Sehr lange weinte der Baum in dieser Nacht. Warum schnitt man ihm einfach die Äste ab, die dem Gärtner und seiner Frau nicht gefielen? Und wer war dieser Gott, der angeblich gegen alles war, was Spaß machte?

Der Baum konnte nicht mehr weinen, er hatte keine Tränen mehr. Er hörte auf zu wachsen. Ihm machte das Leben keine rechte Freude mehr.

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Immerhin, er schien nun dem Gärtner und seiner Frau zu gefallen. Wenn auch alles keine rechte Freude mehr bereitete, so wurde er wenigstens geliebt. So dachte der Baum.

Viele Jahre später kam ein kleines Mädchen mit seinem Vater am Baum vorbei. Er war inzwischen erwachsen geworden, der Gärtner und seine Frau waren stolz auf ihn. Er war ein rechter und anständiger Baum geworden. Das kleine Mädchen blieb vor ihm stehen.

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„Papa, findest du nicht auch, dass der Baum hier ein bisschen traurig  aussieht?“ fragte es. “ Ich weiß nicht,“ sagte der Vater. „Als ich so klein war wie du, konnte ich manchmal auch sehen, ob ein Baum fröhlich oder traurig ist. Aber heute kann ich das nicht mehr.“ „Der Baum sieht wirklich ganz traurig aus.“ Das kleine Mädchen sah ihn mitfühlend an.

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„Den hat bestimmt niemand richtig lieb. Schau mal, wie ordentlich dergewachsen ist. Ich glaube, der wollte mal ganz anders wachsen, durfte aber nicht. Und deshalb ist er jetzt traurig.“ „Vielleicht“, antwortete der Vater versonnen. “ Aber wer kann schon wachsen , wie er will?“

„Warum denn nicht?“ fragte das Mädchen. „Wenn jemand den Baum wirklich lieb hat, kann er ihn auch wachsen lassen, wie er selber will, oder nicht? Er tut damit doch niemanden etwas zuleide.“

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Erstaunt und schließlich erschrocken blickte der Vater sein Kind an. Dann sagte er: „Weißt du, keiner darf so wachsen, wie er will, weil sonst die anderen merken würden, dass auch sie nicht immer so gewachsen sind, wie sie eigentlich mal wollten.“

„Das verstehe ich nicht, Papa!“ „Sicher Kind, das kannst du noch nicht verstehen. Auch du bist vielleicht nicht immer so gewachsen, wie du gerne wolltest. Auch du durftest nicht.“ „Aber warum denn nicht, Papa? Du hast mich doch lieb und Mama hat mich auch lieb, nicht wahr?“

Der Vater sah sie eine Weile nachdenklich an. „Ja“, sagte er dann, „Sicher haben wir dich lieb.“  Sie gingen langsam weiter und das kleine Mädchen dachte noch lange über dieses Gespräch und den traurigen Baum nach.

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Der Baum hatte den beiden aufmerksam zugehört, und auch er dachte lange nach. Er blickte ihnen noch immer hinterher, als er sie eigentlich schon lange nicht mehr sehen konnte.

Dann begriff der Baum. Und er begann hemmungslos zu weinen.

In Liebe Martina Peter

Ich danke an dieser Stelle Martina Peter für diese wunderschöne Geschichte.

Herzlichst

Evelyn

Mentorin auf Zeit


2 Kommentare

  1. 1. FrEaK

    Kommentar vom 28. August 2011 um 17:12

    Echt schön!

    Diese Geschichte ist wunderschön. Immer wenn ich sie mir durchlese, denke ich an meine Kindheit und an das was mir hätte Spaß machen können, wenn da nicht die Gärtner wären…

  2. 2. Evelyn

    Kommentar vom 28. August 2011 um 17:23

    Ja, verstehe ich. Und dennoch sind die Gärtner notwendig. Nur dadurch lernen wir zu erkennen, was wir ändern dürfen. Wir erkennen die Weisheit in dem, was wahr und was ist.
    Ich hab gelernt, dass alles seinen Sinn hat, ohne Wenn und Aber…
    Einen wundervollen Sonntag noch

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