Der alte Mann und das Pferd

© Andrea Marchetti

Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber selbst Könige waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd.

Die Könige boten phantastische Summen für das Pferd, aber der Mann sagte dann:“ Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Freund. Und wie könnte man seinen eigenen Freund verkaufen ?“. Der Mann war arm, aber sein Pferd verkaufte er nie.

Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich, und die Leute sagten: „Du dummer alter Mann. Wir haben gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück ! Welch ein Unglück ! Nein!“

© Andrea Marchetti

Der alte Mann sagte: „Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt einfach: „Das Pferd ist nicht im Stall“. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, weiss ich nicht.“

Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war. Aber am nächsten Tag kehrte das Pferd plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur das, es brachte auch noch ein Dutzend wilder Pferde mit. Wieder versammelten sich die Leute und sie sagten: „Alter Mann, du hattest recht. Es war kein Unglück, es hat sich tatsächlich als ein Segen erwiesen.“

© Andrea Marchetti

Der Alte entgegenete: „Wieder geht ihr zu weit. Sagt einfach: „Das Pferd ist zurück“. Wer weiss, ob das ein Segen ist oder nicht ?“

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der begann, die Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die Beine. Wieder versammelten sich die Leute. Sie sagten: „Wieder hattest Du recht ! Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen, und er war die einzige Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor.  So ein Unglück !“

Der Alte antwortete: „Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiss, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist. Das Leben kommt in Fragmenten und mehr bekommt ihr nie zu sehen.“

© Andrea Marchetti

Es ergab sich, dass das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes wurden zwangsweise zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er verkrüppelt war. Der ganze Ort war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war und man wusste, dass die meisten jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren würden.

Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: Du hattest recht, alter Mann – es hat sich nicht als Unglück erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt aber immerhin ist er noch bei dir. Unsere Söhne sind für immer fort.

© Andrea Marchetti

Der alte Mann antwortete wieder: „Ihr hört nicht auf zu urteilen. Niemand weiß ! Sagt nur, dass man euere Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Doch nur Gott, der das Ganze kennt, weiss, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“

(eine Geschichte aus China)

Wie oft am Tag gehen wir in die Bewertung, Beurteilung bzw. Verurteilung von dem was sich in unserem Leben zeigt? Wie oft zeigen wir mit dem Finger auf andere und sagen:

  • Das hast du falsch gemacht…
  • Das will ich nicht…
  • Nur so das ist gut…?

Können wir davon ablassen? Es lebt sich einfacher, wenn wir diese Sichtweise des alten Mannes übernehmen. Wem nutzen Vorwürfe?  Was ist Glück / Unglück?  Alles dient uns – wenn wir das auch zumeist in diesem Augenblick, wo uns eine bestimmte Situation alles andere als schmeckt, alles andere als sehen können. Doch in jeder Begegnung steckt ein Geschenk für uns drin – erkennen wir es.

Herzlichst

Evelyn

– Mentorin auf Zeit –


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