USA – Hochbegabt ist nicht genug (2/2)

 

Hochbegabungswelt:

© Saskia-Marjanna Schulz

In Foren klagen hochbegabte Erwachsene, dass sie mit Nachteilen zu kämpfen haben, wenn andere Menschen – Kollegen, Nachbarn – wissen, dass sie hochbegabt sind. Aus Ihrer Erfahrung: Ist dies nur in Deutschland ein Problem – oder gibt es diesen Neid-Faktor auch in den USA?

Sylvia Zinser: Auf die Gefahr hin, jetzt auf verschiedene Füße zu treten: Ich halte es nicht für geschickt, wenn Erwachsene ihre eigene Hochbegabung erwähnen, es sei denn gegenüber sehr engen Freunden. Die meisten Menschen verstehen unter Hochbegabung „höhere Intelligenz“, und nichts weiter. Das klingt nach einem Gold-Schatz, einem erstrebenswerten Gut. Dass dieser Schatz nicht ohne ein enormes Gewicht daherkommt, verstehen nur Experten; Nicht-Experten verstehen nicht, was in ihren hochbegabten Nachbarn vorgeht und werden neidisch auf das Äußerliche.

Ich weiß nicht, ob Neid nur direkt mit Hochbegabung oder auch mit Erfolg, mit Selbstverwirklichung des hochbegabten Menschen zu tun hat. Mit Erfolg meine ich jetzt nicht äußerlichen Reichtum sondern eher innerlichen: Eine Freude am eigenen Tun, eine Zufriedenheit während der Nachbar vielleicht in einem unerwünschten Job malocht. Auf der anderen Seite gibt es äußerlich erfolglose Hochbegabte und da könnten Nachbarn und Bekannte die Frage stellen, warum sie denn nicht reicher sind, wenn sie doch so schlau sind – aus dem Neid wird Schadenfreude. Die Hochbegabung kann nicht einzeln gesehen werden sondern nur im Zusammenhang mit der Gesamtpersönlichkeit. Es gibt Untersuchungen, die besagen, dass der Prozentsatz der introvertierten Personen mit dem IQ steigt. Von Nachbarn werden introvertierte Menschen gerne als nicht sozial angesehen, was dann mutiert in „der hält sich wohl für was Besseres“ und zu „Naja, er ist halt hochbegabt“.

© Saskia-Marjanna Schulz

Das ist aber international, denke ich, und in den USA genauso zu finden wie in Deutschland. Im Vergleich Deutschland gegenüber USA meine ich, dass die frühe Förderung von Kindern hier üblicher ist. Kindergärten und Vorschulen gehen hier mit dem Alphabet und den Zahlen genauso um wie mit Spielsachen – Kinder dürfen sich damit beschäftigen, wenn sie möchten. Neid gegenüber Kindern oder den Wettbewerb, welches Kind früher liest habe ich hier wenig erlebt; dieser Neid ist im Bereich des Sports eher üblich, wenn der Freund des eigenen Kindes in die Football-Mannschaft der Schule aufgenommen worden ist, aber das eigene Kind nicht.

Hochbegabungswelt: Hochbegabung etwas weiter betrachtet – unter Einbeziehung der hochbegabten/höchstbegabten Kindern – welches sind die Probleme, die den Hochbegabten heute vor allem unter den Nägel brennen?

Sylvia Zinser: Es gibt inzwischen mehr Lehrer, die sich der Thematik bewusst sind, als es von 9 Jahren gab. Es gibt eine Reihe Grundschulen, die sehr gut mit Hochbegabten umgehen, ihnen Projektarbeit anbieten, sie nicht durchgängig als Hilfslehrer anstellen, sondern ihnen Extrafutter geben. An solchen Schulen können diese Kinder sich wohlfühlen. Was meiner Meinung nach aber noch vernachlässigt ist, ist, dass Hochbegabung ja nicht pur akademisch ist. Diese Kinder sind oft ganz eindeutig „anders“, z. B. sammeln und identifizieren Käfer vom Gras während die Mitschüler Fußball spielen. Es ist oft schwierig für hochbegabte Kinder, Freunde zu finden, die gleiche oder ähnlich intensive Interessen haben. Manchmal fühlen sich diese Kinder wie vom anderen Stern. Ich halte es für wichtig, dass hochintelligente Kinder um ihre Hoch- oder Höchstbegabung wissen und lernen, was damit alles im Kombipack kommen kann. Nur dann können sie ihre Gefühle und Besonderheiten den Klassenkameraden gegenüber verstehen.

Im gleichen Zusammenhang müssen Kinder auch die Chance haben, Gleichgesinnte zu treffen. Wenn Schulen einzelne Unterrichtsstunden für die „schnelleren“ Kinder anbieten könnten, wäre schon viel geholfen. Mehr Aufwand braucht es natürlich für die kleine Gruppe der Höchstbegabten, weil diese in der Sichtweise vieler Lehrer und Schulleitungen nicht existieren. Eine meiner Professorinnen an Northeastern hat es einmal so ausgedrückt: Ein Kind mit IQ 160 empfindet eine Begabtenklasse mit Kindern um IQ 130 genauso wie ein Kind mit IQ 130 eine Regelschulklasse empfindet. Vor allem Eltern müssen sich wirklich querlegen, um für diese Kinder Freunde, Mentoren, oder Brieffreunde zu finden. Ansonsten gibt es noch die Gruppe Kinder, die nicht als hochbegabt testet, aber sehr klar alle Merkmale hochbegabter Kinder zeigen. Wenn Schulen zum Beispiel schon ab einem gemessenen IQ von 120 genauer hinschauten und diesen Kindern Extra-Futter anböten, wäre ihnen geholfen.

© Saskia-Marjanna Schulz

Ich lese immer wieder, dass Schulleitungen und Lehrer noch zu sehr auf die magische 130 fokussieren, ohne den Test genauer unter die Lupe zu nehmen. In jedem Schulamt sollte jemand beschäftigt sein, der diese Tests lesen kann, analysieren kann, ob vielleicht eine Teil-Hochbegabung vorliegt, oder eine Lernschwäche. Dabei haben solche „ungleichmäßigen“ Kinder noch mehr Schwierigkeiten, ins System zu passen. Sie verwenden einen Teil ihrer Intelligenz zum Kompensieren ihrer Schwäche(n), an Tagen, an denen sie damit erfolgreich sind, schieben sie ihren Erfolg oft auf äußere Faktoren (Glück, nette Lehrerin, etc.) während sie Misserfolg alleine sich selbst zuschreiben.

Diese Kinder brauchen jemanden, der ihre Asynchronie versteht, die Stärken fördert, aber die Schwächen nicht ignoriert sondern mit dem Kind plant, wie es sich weiterentwickeln kann. Und zuletzt: Eltern dürfen nicht von ihrer Umgebung verdammt werden, weil sie ihre Kinder fördern. Eltern tun genau das Richtige: sie geben ihrem Kind geistiges Futter. Mit elterlicher Förderung kann man das Lernen von Fakten vielleicht etwas beschleunigen, aber nicht so, dass aus einem normalbegabten Kind ein Mathe-Genie wird.

Hochbegabungswelt: Was sollte aus Ihrer Sicht getan werden? Was erwarten Sie persönlich von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kirchen?

Sylvia Zinser: Ich halte es hier mit der Bibel – genauer mit dem Talente-

UDE 2010

© Evelyn Worbs

Gleichnis. Ein Mann gibt seinen Dienern verschiedene aber gewaltige Geldsummen (Talente) zum Verwalten. Zwei benutzen das Geld, handeln und handeln weiter bis sie das Doppelte erwirtschaften. Der Dritte vergräbt seinen Anteil in der Erde. Alle Menschen haben verschiedene Talente in verschieden intensiver Ausprägung. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, diese Talente zu benutzen, zu vermehren. Talente sollten nicht ungenutzt im Keller vergraben sein sondern zum Nutzen der eigenen Familie, der Wirtschaft, des eigenen Landes, der Menschheit eingesetzt werden.

Talente können aber nur blühen, wenn Kinder im Kindergarten oder der Schule auf ihrer Stufe arbeiten können, wenn Kinder und Jugendliche sich in langfristige Projekte vertiefen können, wenn die Schule von ihnen fordert, dass sie in die Tiefe denken, Zusammenhänge analysieren, neue Wege gehen, evaluieren, was sie tun und somit lernen eigenständig Probleme zu finden, anzugreifen und zu lösen. Dieses sind Lernziele, die nicht per Multiple-Choice abgefragt werden können. Ich möchte nicht den Sinn und Zweck von PISA abstreiten, aber Schulen dürfen nicht mit dem Ziel der besseren Test-Statistik unterrichten (Das ist hier in den USA noch extremer).

Es gibt so wenige Hochbegabte, dass eine Förderung statistisch irrelevant wäre. Also, was sollte die Wissenschaft tun? Die Definitionen müssen überarbeitet werden. Ein IQ-Test ist nicht alles, es gibt weitere Wege, Hochbegabte zu finden, von Eltern-, Selbst- und Lehrernominierung bis zu kultur-unabhängigeren Tests. Auch sollten wieder Tests entwickelt werden, die über IQ 160 messen. Mir ist die statistische Schwierigkeit dessen bewusst, aber ich halte es für notwendig. Ein Konzept ist leider nur dann beweisbar und somit vor der Bevölkerung vertretbar, wenn es messbar ist.

Die Schulpolitik sollte ein Recht auf Förderung für Hochbegabte verankern und dafür auch Finanzen zur Verfügung stellen. Manche Maßnahmen wie einfache Akzelerierung sind ja noch nicht einmal teuer und sind laut Forschung normalerweise effektiv. Die Wirtschaft könnte für Kinder und Erwachsene Projektmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Es wäre schön, wenn hochbegabte Menschen eine Möglichkeit hätten, Forschungsideen zu verfolgen, Kinder im Rahmen von Wettbewerben wie Jugend Forscht, Erwachsene vielleicht in ihrer Freizeit. Auch sollten Wirtschaftsbetriebe Karrierewechslern offener gegenüberstehen und das nicht als Minus im Lebenslauf vermerken.

Hochbegabungswelt: Welchen Beitrag könnte ein jährlich stattfindender „Tag der Hochbegabung“ leisten? Wer sollte ihn ins Leben rufen und begleiten?

Sylvia Zinser: In den USA gibt es ja eine unglaubliche Vielzahl von designierten Tagen („Rede-wie-ein-Pirat-Tag“, „Umwelt-Tag“, „…-Gedenk-Tag“, etc). Ein Tag der Hochbegabung, wenn initiiert, darf nicht untergehen. Eine Möglichkeit wäre es, einen solchen Tag zur Fortbildung von Lehrkräften zu nutzen. Eine andere, Ausstellungen von Werken Hochbegabter zu organisieren. Eine solche Ausstellung kann dann Kunstwerke, Gedichte neben Forschungsarbeiten beinhalten.

© Evelyn Worbs

Wirkungsvoll ist ein solcher Tag aber nur, wenn die Medien mithelfen, für die Verbreitung zu sorgen und wenn Wirtschaftsbetriebe und Stadtverwaltungen Begabten als Sponsoren zur Seite stünden. Die Künstler, Autoren und Forscher müssten dann allerdings bei ihren Werken und Arbeiten stehen, um ihre Motivation zu erklären, mit Besuchern zu interagieren und sie in Gespräche zum Thema zu verwickeln, zu zeigen, dass sie genau wie jeder Andere Menschen mit Gefühlen, Interessen und Vorlieben sind. Nicht jeder Hochbegabte hätte Interesse, Beiträge zu leisten, aber derartige Ausstellungen wären ein Weg, Brücken zu bauen und Vorurteile abzubauen.

Besser als eintägige Veranstaltungen wären allerdings feste Foren, Treffs oder Cafes, wo man als begabte Person willkommen ist, hin und wieder Werke und Ideen vorstellen kann, vielleicht einfach nur ausspannen kann und mit anderen Gleichgesinnten klönen kann. Diese müssten das gesamte Jahr über oder zumindest regelmäßig offen sein, und rotierend Werke und Projekte von Anwesenden vorstellen. Ich würde aber natürlich nicht verlangen wollen, dass z.B. Autoren ihren IQ-Test mitbringen.

Generell sollte das Ziel sein, Begabungen aller Art zu zelebrieren. Seit einigen Jahren gibt es hier in den USA das Davidson Institute for Talent Development. Diese Organisation, gegründet von einem Ehepaar, das sein Software-Imperium verkauft hat um signifikante Geldsummen in die Förderung Höchstbegabter zu stecken. Jährlich finden Treffen statt, Kinder kommen zusammen und spielen Brett- und andere Spiele miteinander. Komplett nicht-soziale Kinder fügen sich plötzlich in eine Zufallsgemeinschaft ein, wie man es nicht erwartet hätte. Eine ähnliche Organisation in Deutschland wäre ein mögliches Modell zur Förderung Höchstbegabter.

Hochbegabungswelt: Kaum vorstellbar – aber auch Sie werden hin und wieder Zeit zum Träumen haben: Von was träumen Sie – was wünschen Sie sich für Ihr Leben? Welche Visionen haben Sie?

Sylvia Zinser: Meine Talente in verschiedenen Richtungen zu verwenden. Wieder Gesangsunterricht zu nehmen. Triathlon zu coachen. Eine Schule für jüngere Hochbegabte zu gründen, wenn wir wieder aus den USA nach Deutschland zurückkehren. Für Ironman Kona zu qualifizieren. Und die Zeit für all das zu finden 🙂 Herzlichen Dank.

Kontakt: Dr. Sylvia Zinser
http://tinyurl.com/SZ-sSammelsurium

http://tinyurl.com/ZinserHochbegabung

Das Interview ist erschienen in WELT DER HOCHBEGABUNG

Lilli Cremer-Altgeld

Das Interview führte Lilli Cremer-Altgeld. Sie ist Rednerin im Deutschen Rednerlexikon und arbeitet als Journalistin, Beraterin und Coach. https://www.xing.com/profile/Lilli_CremerAltgeld

Liebe Lilli,

ich danke Dir herzlich, daß dieses Interview auch hier auf meinem Blog erscheinen darf. Ich finde das Thema dermaßen wichtig, so daß ich hoffe, hiermit einen kleinen Beitrag geleistet zu haben, daß es bei Eltern, Lehrer, Nachbarn, Kollegen und anderen Menschen auch in diesem Bereich zu einem Wahrnehmungswechsel kommt. Wir brauchen einfach mehr Achtsamkeit.

Herzlichst Evelyn


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