Selbsttötung (Suizid)

© Crazy Frankenstein

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Ich glaube, daß wir alle in unserem Leben den Moment kennen, wo wir nicht mehr weiter wissen. Wo Sorgen, Ängste, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Scham, Chaos und vieles mehr uns so stark zusetzen, daß wir denken, daß es besser wäre, wenn wir von dieser Welt gingen. Für uns selbst und für unsere Angehörigen, unser Umfeld. Dieser Moment ist sehr häufig dann gegeben, wenn wir immer weiter über unsere Grenzen gingen und andere über unsere Grenzen haben gehen lassen. Erinnern Sie sich an die Volksweisheit: „Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht“?

Wie die WHO angibt, haben sich allein im Jahr 2000 etwa 815.000 Menschen das Leben genommen. In Deutschland lag die Rate im Vergleichsjahr bei rund 14,3 Menschen pro 100.000 Einwohner, wobei die Suizidalität in Großstädten wesentlich höher liegt als in ländlichen Bereichen. Und immer mehr Männer wählen den Weg der Selbsttötung (allein 8.188 Männer waren es im Jahre 2001).  Das waren 8.188 Männer zu viel!

© Andrea Marchetti

Die Dunkelziffer der Selbstmorde ist wesentlich höher als die „offizielle Statistik“, denn zahlreiche Unfälle, ungeklärte Todesursachen oder auch Missbrauch von Drogen etc. sind hierbei unberücksichtigt. Beklemmend ist für mich, daß jeder vierte Tod eines Menschen unter 30 Jahren auf einen Selbstmord zurückzuführen ist. Und die Selbstmordrate steigt insbesondere bei Männern ab dem 60. Lebensjahr.

Und auch die Amokläufe nehmen in letzter Zeit zu; zeigen auf, daß ein erweiterter Suizid in Kauf genommen wird (die Mitnahme von anderen Menschen ohne deren Einwilligung), weil die eigene Not zu groß ist.

© Foto AS

Was ich mir wünsche  ist, daß sich sowohl Männer als auch Frauen (2.868 Frauen nahmen sich in 2001 das Leben) trauen, sich die nachfolgende Fragen einfach mit Ja oder Nein zu beantworten:

  1. Habe ich in letzter Zeit daran denken müssen, mir das Leben zu nehmen?
  2. Häufig?
  3. Habe ich daran denken müssen, ohne es zu wollen?
  4. Haben sich Selbstmordgedanken aufgedrängt?
  5. Habe ich konkrete Ideen, wie ich es machen würde?
  6. Habe ich Vorbereitungen getroffen?
  7. Habe ich schon zu jemandem über meine Selbstmordabsichten gesprochen?
  8. Habe ich bereits einmal einen Selbstmordversuch unternommen?
  9. Hat sich in meiner Familie oder in meinem Freundes- und Bekanntenkreis schon jemand das Leben genommen?
  10. Halte ich meine Situation für aussichts- und hoffnungslos?
  11. Fällt es mir schwer, an etwas anderes als an meine Probleme zu denken?
  12. Habe ich in letzter Zeit weniger Kontakte zu meinen Verwandten, Bekannten und Freunden?

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  13. Habe ich noch Interesse daran, was in meinem Beruf und in meiner Umgebung vorgeht?
  14. Interessieren mich noch meine Hobbys?
  15. Habe ich jemanden, mit dem ich offen und vertraulich über meine Probleme sprechen kann?
  16. Wohne ich zusammen mit Familienmitgliedern oder Bekannten?
  17. Fühle ich mich unter starken familiären oder beruflichen  Verpflichtungen stehend?
  18. Fühle ich mich in einer religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinschaft verwurzelt?

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Wieviele Ja-Antworten und wieviele Nein-Antworten fanden Sie für sich heraus? Je mehr Fragen im Sinne der angegebenen Anworten beantwortet werden, um so höher ist das Suizidrisiko einzuschätzen!

Nichts ist jetzt wichtiger, als daß Sie sich JETZT professioneller Hilfe (Arzt, Psychologe, Therapeut o.ä.) bedienen und offen über diese Gedanken sprechen. Alles andere hat zurückzustehen, denn es geht ausschließlich um Ihr Leben. Oder gehören auch Sie zu den Menschen, die sich lieber den Verleugnungstendenzen bzw. einer Bagatellisierung hingeben?

Glauben Sie mir, es gibt immer einen Weg – auch und gerade für SIE! Doch ist die Voraussetzung, daß Sie sofort Hilfe in Anspruch nehmen, um aus der  inneren Dunkelheit herauszukommen, die sich in Ihnen schon seit langem breit macht.

Herzlichst

Evelyn

– Mentorin auf Zeit –


7 Kommentare

  1. 1. Dr. Bernhard A. Grimm

    Kommentar vom 19. Oktober 2010 um 18:35

    Liebe Evelyn,
    danke für Deinen wichtigen und einfühl.samen Beitrag – ich kenne persönlich die Nähe zum Suizid nur zu(!)gut, woraus nachfolgender Exkurs verstehbar wird (leider vielleicht zu lang, pardon, aber für den einen oder anderen wichtig).

    Wenn die Hoffnung schwindet. Reflexionen zum Suizid
    © Dr. Bernhard A. Grimm, Scheyern

    Einen 80jährigen Rentner kannte ich, der in seiner Isolation nur noch den Freitod als letzten Ausweg sah und auf einen Zeitungsrand notierte: „Vielen Dank für Eure Liebe und Fürsorge. Ich will Euch aber fürderhin nicht mehr im Wege sein.“

    Über Joe, einem guten Bekannten, waren in einem recht kurzen Zeitraum bittere Schicksalsschläge gleich einem heftigen Gewitterregen niedergegangen, und wie das Erdreich zu große Wassermassen nicht aufzunehmen vermag, so sah auch Joe sich außerstande, mit all dem Leid.vollen, das ihn traf, fertig zu werden. Sein Leben war für ihn plötzlich aussichts.los geworden, und das ist, mit Dostojewskis Raskolnikow gesprochen, so, wie „wenn man genau weiß, dass bei allem, was man tut, nichts herauskommen wird.“ Joe brachte sich um – er war in einer Mit.welt, die seine Not nicht sah oder einfach wegschaute, un.sagbar traurig geworden, jenseits jeder tragenden Sinn.perspektive für morgen.

    „Leb wohl, mein Sohn. Jetzt hast du wohl keine Mutter mehr, aber auch keine Plage und keine Sorgen mehr mit ihr“ – so schrieb eine Witwe, Mitte Siebzig,gesund und geistig voll da, ehe sie sich zur Selbst.tötung entschloss.

    Drei für mich erschütternde Zeugnisse.

    Ich weiß sehr wohl, dass nicht jeder Selbst.mord aufgrund von Sinn.losigkeits.gefühlen verübt wird, wie bei Joe, es lebt aber in mir die Gewiss.heit, dass mancher Suizid unterblieben wäre, hätte man die Gelegenheit und Möglichkeit gehabt und/oder wahrgenommen, diesem Menschen in seiner Not, in seiner Motivations.schwäche und depressiven Resignation, in seiner abgründigen und jedes Leben und Weiterleben lähmenden Null-Bock-auf-nichts-Mentalität Sinn.möglichkeiten aufleuchten zu lassen oder ihn zu befähigen,
    Sinn.funken auch noch im größten Elend seiner Lebens.situation herauszuschlagen.

    Manchmal wäre es schon ausreichend, einfach da zu sein, zuzuhören, Nähe zuzulassen und den anderen zu berühren, seine Hand zu halten – die älteste aller Empfindungen, die wir noch früher erlernen als Sehen und Hören, ist der Tastsinn: Hier erfühlen wir nicht nur die Nähe des anderen Menschen, sondern wir schenken ihm auch – spür.bar – Nähe!

    Vereinsamung gilt allgemein als eine der größten psychischen Gefahren des Alters. Und davon scheinen vor allem Männer in hohem Maße bedroht zu sein. Frauen haben stärkere soziale Netzwerke und pflegen mehr Kontakte, während Männer – und dies vermehrt nach der Ausgliederung aus dem Arbeitsprozess und/oder nach dem Tod des Partners – oftmals solipsistisch vor sich hindümpeln.

    Dazu kommt noch ein weiteres Problem: Viele Männer nehmen keine Hilfe an. Ob Kinder, Nachbarn oder gute Freunde – das SOZIALE NETZWERK IST WICHTIG und entscheidend, denn es hat eindeutig mortalitäts- und suizid.senkende Effekte:

    Mit jeder Person, auf die man sich fest verlassen kann, mit der man sich eng verbunden fühlt und mit der man seine Sorgen, Probleme und Freuden teilen kann, sinkt das Sterblichkeits.risiko um fast 10%. Entscheidend hierbei sind – so die Forscher – insbesondere die emotionalen Auswirkungen – natürlich auch die materielle Unterstützung – durch das soziale Netzwerk: Wert.schätzung, Bestätigung, Intimität, aber freilich auch Hilfe im Haushalt, bei (schwerer) Krankheit und in Notfällen. Mangelt es an diesen Faktoren, dann steigt das Risiko für Ängste, Depressionen und Verzweiflung.

    Ein chinesisches Sprichwort sagt: „EIN MENSCH ALLEIN IST NOCH KEIN MENSCH“.

    DER MENSCH BRAUCHT DAS DU, um zu seinem Ich zu finden. Er will beantwortet werden. Der andere oder die anderen sind das Lebens.elixier schlechthin.

    Aus der Suizid.forschung wissen wir, dass ein alter oder schwerst.kranker Mensch selbstmord.gefährdet ist, wenn die Zahl seiner monatlichen sozialen Kontakte unter zwanzig fällt. Psychische Leiden sind im Alter besonders häufig, doch Therapeuten und Senioren
    finden in der Regel nur schwer zusammen. Das Problem ist nicht, dass alte Menschen schlecht auf eine Therapie ansprechen, das Problem ist, dass sie keine erhalten. Nur e i n Prozent aller Psycho.therapien, die bei Krankenkassen beantragt werden, kommen den über 60-Jährigen zugute. Das ist erschreckend, wenn man weiß, dass der Bedarf ebenso groß ist wie bei jüngeren Menschen.

    An schweren Depressionen leidet jeder zwanzigste Senior, in Heimen sind es noch sehr viel mehr.

    Dass Menschen, die noch ein Viertel ihres Lebens vor sich haben, durch das psychotherapeutische Netz fallen, ist skandalös. Wenn jedoch Abhängigkeit und Hilfs.bedürftig.keit die Alten psychisch schwer belasten, wenn oftmals der eigene Lebens.rückblick sie im Gewissen massiv bedrängt und sie selbst außerstande sind, ihr Leben mit all den nicht verheilten Wunden in ein positives Licht zu betten, dann fackeln diese Menschen nicht lange, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

    Die Suizid.gefährdung steigt extrem mit zunehmendem Alter, wie viele Studien und Statistiken feststellen. Und was hier so traurig macht, ist dies:

    LEBENSMÜDE MENSCHEN WOLLTEN SO EIGENTLICH GAR NICHT DEN TOD, SIE KONNTEN NUR DAS LEBEN NICHT MEHR ERTRAGEN.

    Das ist ein wichtiger Unterschied! Daher gilt es zu bedenken:

    DAS ENTSCHEIDENDE ARGUMENT GEGEN DEN SELBST.MORD
    KANN NIE EINES GEGEN DEN TOD, ES MUSS STETS EINES F Ü R DAS LEBEN SEIN.

    Der Schriftsteller Jean Améry war 56 Jahre alt, als er seinen wahrhaft trostlosen Essay „Über das Altern“ schrieb. Vielleicht haben 5 Jahre Konzentrationslager seine illusionslose Lebens.sicht geprägt. Er analysiert Altern übertrieben scharf, und nach ihm bestimmt nicht die wandlungs.bereite Seele oder der Lebens.ruf, wann wir beginnen alt zu werden, sondern die Gesellschaft, es wird uns zugemessen durch den „Blick des Anderen“: „Im Leben eines jeden Menschen gibt es einen Punkt Zeit oder, wenn man es in mathematisch präziser Ausdrucksweise will, die Nachbarschaft eines Punktes,wo er entdeckt, dass er nur ist, was er ist. Mit einem Mal, so erkennt er, bewilligt die Welt ihm nicht mehr den Kredit seiner Zukunft, sie will sich nicht mehr
    darauf einlassen, ihn als den zu sehen, der er sein könnte. Die Möglichkeiten,von denen er doch glaubte, sie seien ihm noch gewährt, blendet die Gesellschaft nicht mehr ein in das Bild, das sie sich von ihm macht. Er findet sich – nicht aus eigenem Urteil, sondern als Spiegelbild des Blicks der Anderen, das aber alsbald von ihm interiorisiert wird – als ein GESCHÖPF OHNE POTENTIALITÄT. Niemand fragt ihn mehr: „Was wirst du tun? Alle stellen fest, nüchtern und unerschütterlich: Das hast du schon getan“.

    Ich stimme Améry nicht zu und wehre mich gegen diese Schwarzmalerei, die sich versteht als Revolte gegen die Düperie des falschen Trostes, gegen die irgendwo wahren, aber – nach Meinung unromantisch.nüchterner Kritiker – konkret verlogenen Weichzeichnereien à la Hermann Hesse, die sich aber auch versteht als Resignation vor dem Un.entrinnbaren des Älter.werdens. Daraus resultiert für ihn letale Perspektive.losigkeit:

    8 Jahre später veröffentlichte Améry einen neuen, programmatischen Essay mit dem Titel „Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod“. Dort ist unter anderem zu lesen (übrigens nahm er sich 2 Jahre nach diesen Zeilen in einem Hotelzimmer in Salzburg das Leben – er war 66 Jahre alt geworden):

  2. „Das Leben ist Bürde. Der anzutretende Tag ist niederdrückendes Gewicht. Gewicht ist der eigene Körper, der uns zwar trägt, den aber auch wir tragen müssen – und niemals habe ich verstanden, wie fette Menschen es aushalten können mit sich. Last ist die Arbeit, lästig die Muße. Die Wohnung mit ihren Möbeln ist gewichtig. Der Lärm der Straßen und der Menschenstimmen muss er.tragen, ge.tragen werden – wie gescheit ist doch die Alltagsprache. Schwer ist der erigierte Penis, schwerer noch der hängende. Selbst die zartesten Brüste müssen geschleppt werden. Auch rücken stets vier Wände gegen uns zueinander. Sie werden uns zerpressen, und werden Beschwerde sein. Wie sagt man es? Mein Herz ist schwer, j´ai le coeur lourd“.
  3. Das ist Verzweiflung pur, tiefste Depression – und niemand vermochte sie ihm aufzuhellen, wie dies in Goethes Drama geschah bei Dr. Faust, der just in dem Augenblick, in dem er das Giftfläschchen an seine Lippen hebt, Ostermusik hört. Diese Musik, die ihn von der Selbst.vernichtung abhält, ist wie eine Hoffnung, es möge doch noch eine Lebens.verheißung geben, die ihn locken könnte:

    Er lässt ab von seinem Selbstmord.versuch, öffnet die Tür, geht nach draußen, mischt sich unters Volk, trinkt Bier und tanzt mit einem Mädchen. Das Leben hat ihn wieder.

    86 Prozent derer, die einen Suizid.versuch überlebt haben, sind FROH, WIEDER INS LEBEN ZURÜCKGEKEHRT ZU SEIN. Diese Zahl ist ein deutliches Indiz dafür, dass jeder SUIZID IM GRUNDE EINE VERZWEIFLUNGSTAT ist und dass sich derjenige, der sie begeht, eigentlich eine andere Lösung seines Problems gewünscht hatte. Das bestätigen Untersuchungen von Experten.

    Den so genannten BILANZ-SUIZID, den angeblich jemand begeht, weil er einfach zufrieden ist mit dem, was er bis dahin erlebt hat, und weil er nicht nach mehr verlangt, den gibt es so gut wie gar nicht. Vielmehr steckt in der Regel eine NOTLAGE hinter einer solchen Tat, eine Notlage, AUS DER ES – könnte man das große Angebot an Hilfe und Beratungsstellen tatsächlich wahrnehmen – ZUMEIST EINEN AUSWEG GIBT.

    Immer mehr alte Menschen nehmen sich das Leben, ohne dass es die Öffentlichkeit sonderlich bedrückt oder gar wachrütteln würde. Es ist symptomatisch für eine „Leistungs- und Erfolgsgesellschaft“, dass sie sich – wenn überhaupt – erschüttert zeigt nur dann, wenn sich blutjunge Menschen – also Leistungsträger! – mit der Nadel oder dem Automobil oder sonst wie umbringen. Tatsächlich sterben aber mehr ältere Menschen von eigener Hand als junge, und häufiger in den eigenen vier Wänden als in Altenheimen. Gerade in Heimen vermutet man jedoch eine hohe Dunkelziffer, die aber in der Statistik offenbar unerwünscht ist.

    ES GIBT IN DER REGEL KEINE EINZELN ZU BENENNENDE URSACHE, nicht diesen nur einzigen Grund für den Frei.tod. Mannigfache Probleme scheinen sich zu einer ausweglosen Krise zu summieren. Ein verschiedenartig geschnürtes Bündel aus körperlichen – meist chronischen und schmerzhaften – Erkrankungen, aus Kräfte.nachlassen, sozialer Isolierung und sozialen Beziehungs.konflikten, ein Bündel insbesondere aus dem Gefühl des Un.nützseins und des Nicht-Mehr-Gebraucht-Werdens, der Ver.einsamung, Depression und Ver.zweiflung, der Verlust- und Trennungs.angst, ein Bündel aus Schuldgefühlen und Straf.bedürfnis, mangelndem Selbstwert.gefühl und gestörter Aggressions.verarbeitung – dieses schwere Bündel scheint den Lebens.sinn älterer (und auch schwerst.kranker ) Menschen so sehr zu frustrieren,dass sie die Fahrkarte zum Leben zurückgeben, die Bühne verlassen wollen und dem eigenen Dasein frei.willig ein vorzeitiges Ende setzen.

    Die Suizidal.handlung hat außer der angeführten individual.psychologischen oftmals auch noch eine sozial.psychologische Seite: Der Selbst.mord wird zum Appell an die Umwelt und signalisiert einen Hilfe.schrei an die Mit.welt. Wenn ich über Selbstmord bei älteren Menschen reflektiere, dann denke ich auch noch an die ungezählten Totenscheine mit der Diagnose „Herzversagen“,
    auf denen in Wirklichkeit stehen müsste: Gestorben an Traurigkeit, Verwahrlosung, Einsamkeit.

    Aus der Perspektive vereinsamter, alter Menschen ist nämlich die Angst vor der Beziehungs.losigkeit schon der Tod. Der Zerfall menschlich befriedigender Kontakte und Aufgaben fördert die Selbst.mord.neigung in der heutigen Massengesellschaft sehr. Dies und vor allem das Ausbleiben subjektiv positiver Erfahrungen – mit Gleich.gesinnten, Gleich.altrigen, mit der Familie, mit ehemaligen Freunden, mit den Heiminsassen – ist für den Altersselbstmord durchaus (mit)verantwortlich.

    Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen – und oft sind es die sogenannten „Gläubigen“ mit praktizierender Religionsausübung (Kirchgang!) – DESPEKTIERLICH ÜBER DIE SUIZIDANTEN sprechen:

    Sie begreifen nicht, dass es nun mal peinigende Krankheiten, demütigende Lebensumstände und Hilf.losigkeiten und Aus.sichts.losigkeiten, dass es zutiefst ent.täuschende Erfahrungen gibt, durch die ein totaler Stau aller Antriebs.richtungen im Menschen entsteht, in dem dann das GEFÜHL DER AUSWEG.LOSIGKEIT zu suizidalen Konsequenzen treibt. Auch hier ist es offensichtlich verfehlt zu unterstellen, dass der Glaube an Gott in jedem Fall einen Ausweg bieten müsse.

    So wäre es denn kaum möglich, dass ein Mensch mit der Frömmigkeit, Sensibilität und Kreativität eines Adalbert Stifter von Schmerz und Krankheit zum Suizid getrieben wird.

    Selbst mein antiker Freund, der Stoiker Seneca musste anerkennen, dass die Tugend der Ataraxie, der Un.erschütterlichkeit des Gefühls, an Schmerz und Krankheit und unsäglichem Leid ihre Grenze findet.

    Generell stand ja der „Frei.tod“ in der Antike in hohem Ansehen, erst mit Augustinus beginnt die Verdammung des Suizids. Seneca, für den als Stoiker der selbst gewählte, freie Tod dem natürlichen, ent.würdigenden vorzuziehen ist, formuliert seine Haltung ganz nüchtern:

    Ich will auf das Alter nicht verzichten, wenn es mir Kräfte in vollem Umfang erhält, d.h. die besseren, geistigen. Wenn es aber an meiner geistigen Verfassung rüttelt, wenn es mir nicht gesundes Leben, sondern nur animalisches Vegetieren beschert, dann werde ich den Sprung aus dem morschen, zusammenkrachenden Gebäude wagen.“

  4. In den „Leiden des jungen Werthers“ lässt J.W. von Goethe seinen Werther zu dem engstirnigen und empfindungs.armen Albert sagen:

    „DIE MENSCHLICHE NATUR … HAT IHRE GRENZEN; sie kann Freude, Leid, Schmerz bis auf einen gewissen Grad ertragen, und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also NICHT DIE FRAGE, OB EINER SCHWACH ODER STARK IST, SONDERN OB ER DAS MAß SEINES LEIDENS AUSDAUERN KANN“.

    Gelegentlich zerbricht einer an der subjektiven oder objektiven Ausweglosigkeit (s)einer Situation, und seine Aktion ist eine FLUCHT IN DIE LETZTE GNADE DER NATUR, in den Ausweg nach rückwärts. Für manchen Sensiblen genügt schon, die Zeit zu überleben, an deren Inhalte zu glauben er gelernt hat, und schon stürzt er in ein furchtbares Vakuum geistiger Entleerung und letaler Frustration.

    Manche Selbstmorde entlarven sich nachträglich als Selbst.erleichterungen von dem unerträglichen Gefühl der Schuld. In der Bilanz, oft gegen Ende des Lebens, sagt sich da einer: Wenn schon das Leben nicht nur unnütz war, sondern definitiv und un.korrigierbar als nutz.los vergeudet wurde, kann es dann nicht als geradezu erstrebenswert erscheinen, zumindest im Tod etwas Sinn.verleihendes, Recht.fertigendes, Wieder.gut.zumachendes zu wirken?

    Leben, jedes Leben ist mit Albert Schweitzer schützens.wert und erhaltens.wert. Un.eingeschränkt: JA. Aber:

  5. Wo jedoch ein Mensch – aus welchen subjektiven Gründen auch immer – sein Leben glaubt „zurückgeben“ zu müssen, SOLLTE IN DER BEURTEILUNG DER EINZELFALL ENT.MORALISIERT WERDEN, d.h. die Einzelhandlung fällt nicht unter moralische Kategorien.
  6. Damit will ich dies sagen:

    Die Mehrzahl suizidal Handlungswilliger befindet sich nämlich in einem außer.gewöhnlichen Zustand, der einen drängenden und treibenden, einen mehr oder minder determinierenden Einfluss ausübt so sehr, dass es mir doch höchst fraglich erscheint, ob hier noch von einem eigentlichen Freiheits.akt („Frei.tod“?) die Rede sein kann:

    WO FREIHEIT, AKTUAL.FREIHEIT ABER FEHLT, FEHLT AUCH DIE UN.ERLÄSSLICHE VORAUSSETZUNG VON MORALITÄT,VER.ANTWORTUNG UND ZU.RECHNUNG!

    Daraus folgt:

    Nicht Verachtung und Ächtung, nicht moralische Verurteilung ist angesagt,sondern gefordert ist taktvoller RESPEKT VOR DER LEBENS.NOT UND LEBENS.TRAGIK DES MIT.MENSCHEN – und das Bemühen, nach Kräften eine Mit- und Umwelt zu gestalten helfen, die den Entschluss zum Suizid weitestgehend auszuschließen, zu verhindern vermag.

    Abseits der ethischen Beurteilung der einzelnen Suizidal.handlung wird die allgemeine moral.philosophische Beurteilung der Selbst.tötung seit Sokrates, Aristoteles und Seneca, seit Augustinus, Thomas von Aquin, Immanuel Kant und Jean Améry sehr kontrovers diskutiert (radikales Freiheits.verständnis versus Leben als Leih.gabe Gottes). Ich kann das hier leider nicht vertiefen, aber im Blick auf die un.erträg.lich leid.geprüften Menschen und insbesondere im Blick auf alle, die mit ihrem Alter und den daraus sich ergebenden physischen, psychischen und sozialen Komplikationen absolut nicht mehr zurecht kommen, muss ich als Ethiker anmerken,

    DASS PHYSISCHES UND PSYCHISCHES LEID UND ELEND KONKRET SOLCHE FORMEN ANNEHMEN KÖNNEN, DASS UNSERE ETHISCHEN KATEGORIEN EINFACH NICHT MEHR ZU GREIFEN SCHEINEN. Wo die Zumutbarkeit an Grenzen stößt, da erfordert es die ACHTUNG VOR MENSCHLICHER TRAGIK UND DIE ACHTUNG DER SUBJEKTIVEN ENT.SCHEIDUNG, dass wir uns eines ethischen Urteils schlichtweg enthalten.

    Es stimmt allemal, wenn Viktor E. Frankl den Selbst.mord als ein hinaus geschleudertes „Nein“ zum Leben, zur Sinn.frage benennt, aber was dann, wenn ein Mensch, zumal ein alter und überdies pflege.bedürftiger, dem Erstickungs.tod geweihter oder sozial kalt gestellter Mensch keines einzigen Funkens an Sinn mehr gewahr wird?

    Wir Menschen der Neuzeit haben es vermocht, durch den Fortschritt der Kultur, durch die Sicherung des Nahrungsangebotes, durch die Reduktion der Seuchen,durch den enormen medizinischen Fortschritt und durch vieles andere mehr die Alters.spanne immer weiter heraufzurücken – die Verlängerung menschlichen Lebens ist also durchaus das Ergebnis zahlreicher mensch.licher Manipulationen des Lebens, etwas rein Kultur.bedingtes, und der eine oder andere bedarf oftmals der Hälfte seines Da.seins, um auf die Frage des Alterns eine Antwort zu geben, die das Gefüge der Natur bei weitem transzendiert.

    Wenn es nun im Einzelfall für einen Menschen schlechterdings absolut nicht mehr sinn.voll ist, eine solche künstliche, zivilisatorisch vermittelte Lebens.verlängerung hinzunehmen, so muss es durchaus im Ermessenspielraum des einzelnen stehen können/dürfen, ÜBER DAS ZEIT.MAß SEINES LEBENS SELBER ZU BESTIMMEN bzw. für sich selber zu der ur.sprünglichen Ordnung der Natur zurückzukehren, nach der ein Leben zu Ende ist, wenn seine Beauftragung ihre Er.füllung gefunden hat.

    Es muss begriffen werden, dass der Selbst.mord in der Regel keine Ent.scheidung über Wert oder Un.wert des Da.seins im Ganzen darstellt, er ist vielmehr EIN LETZTER FLUCHT.WEG AUS DEM GEFÜHL ODER AUS DER ERKENNTNIS DER AUSWEG.LOSIGKEIT EINER KONKRETEN LEBENS.SITUATION – und gerade das Alter oder eine letale Er.krankung können sich für manchen zu einer un.ent.rinn.baren Misere gestalten, die für ihn nicht mehr leb.bar erscheint.

    Ich bin überzeugt, dass es sehr wohl möglich ist, an Gott, an ein unsterbliches Leben und an den Wert des Lebens im Ganzen zu glauben und dennoch eine end.liche Situation für aus.sichtslos zu halten.

    Wir müssen uns allesamt dazu bereit finden, das MOMENT DES TRAGISCHEN IM MENSCHLICHEN LEBEN ANZUERKENNEN und für solche Krisen des Daseins sensibel zu werden, in denen einzelne mit ihrem Gewissen ganz allein und eigen.ver.antwortlich vor „Gott“ stehen …

    Herz.liche Grüße, liebe Evelyn, Dein Bernhard

  • 2. Evelyn

    Kommentar vom 19. Oktober 2010 um 23:43

    Lieber Bernhard,

    jedes Deiner Worte ist wichtig – und ich bin Dir dankbar dafür, daß Du in dieser Ausführlichkeit hier geschrieben hast und Deine Erfahrungen uns mitteilst. Ich wünsche mir, daß ganz viele Menschen dies lesen; vor allem jene, die die Situation der Betroffenen ausnutzen bzw. die diese Situation überhaupt nicht nachvollziehen können. Das erfolgt oftmals durch Nörgeln, durch Fordern, durch Nichtakzeptanz, daß die Situation ist wie sie ist. Und glaub mir, die behördliche Unterstützung ist sehr begrenzt; da fallen ganz viele durch das Raster durch. Da klaffen ganz viele (gesetzliche) Lücken; leider – für die Betroffenen. Es ist also kein Wunder, wenn immer mehr Menschen den Weg des Suizid wählen.

    Herzlichst – Evelyn

  • 3. Beate Vennemann

    Kommentar vom 22. Juli 2011 um 20:38

    Sehr gut und sehr wichtig Dein Artikel, Evelyn. Es gibt so viele Menschen, die professionelle Hilfe bräuchten, sich aber leider nicht trauen, diesen Weg zu gehen. Es gibt sicher zahlreiche Gründe, warum sich jemand als letzten Ausweg für ei…nen Suizid entscheidet, seelische Einsamkeit, Unverständnis und gesellschaftlicher Druck sind dabei aber sicher sehr ausschlaggebend. Augenscheinlich geht es den Betroffenen kurz vor ihrem Tod „gut“, so dass Außenstehende sich in „Sicherheit“ wiegen. Dabei ist der Entschluss, das Leben zu beenden, weil keine andere Lösung mehr gesehen wird. letztendlich wie ein „Befreiungsschlag“. Ein Ja zum Tod, eine bereiningende Situation. Deswegen auch ein vermeintliches Glücksgefühl, eine Erleichterung – eine Fassade, die Familie und Freunde nur zu gerne sehen. Wichtig ist es, auf kleine Nuancen zu hören, nachzufragen, für jemanden da zu sein, reden, reden und nochmals zu reden….

  • 4. The Unknown

    Kommentar vom 14. Juni 2012 um 19:50

    Ein interessanter Artikel, jedoch sollte man auch bedenken, das Klinikaufenthalte bzw. professionelle Hilfe nicht jedem hilft und auch nicht für jeden wirklich geeignet ist.

  • 5. Evelyn

    Kommentar vom 16. Juni 2012 um 14:54

    Professionelle Hilfe ist immer angebracht, auch wenn das bedeutet, sich umzusehen, bis die „passende“ Hilfe gefunden wurde. Ohne diese Unterstützung ist aus diesem Kreislauf kaum herauszukommen. Und glücklicherweise stehen uns heute wundervolle Möglichkeiten zur Verfügung.

    Doch der erste Schritt dafür ist ja, sich bewusst für Hilfe zu entscheiden – und diese dann auch noch anzunehmen.

    Ich halte Deine Aussage für einen fehlgeleiteten Glaubenssatz, der vielleicht aufgrund von Erfahrungen sich bildete. Doch es gibt auch andere Erfahrungen. Mache also neue. 🙂

    Danke für Deine Anmerkung.

    Herzlichst
    Evelyn

    PS: Ich las mir auf dem Blog gerade den aktuellen Beitrag durch. Auch hier ist es möglich, Veränderungen herbeizuführen, wenn die junge Frau das wirklich-wirklich will. Unser Umfeld reagiert nun einmal auf das, was wir ausstrahlen. Und wenn eine „Mauer gezogen ist“, werden die anderen auf diese Mauer reagieren – sprich fernbleiben. Das ist ein klarer Kreislauf.

  • 6. Dr. Bernhard A. Grimm

    Kommentar vom 3. September 2012 um 18:08

    Liebe Evelyn,
    seit meinem letzten Kommentar vor zwei Jahren hat mich die Thematik Sterben und Tod und auch Selbst.tötung ständig begleitet. Erst jüngst habe ich die Trauerfeier gestaltet für einen 32-Jährigen, der „gehen“ wollte, weil seine Seele dies wollte und weil sie erspürte, den Lern.prozess in dieser jetzigen Inkarnation vollendet zu haben. Lass mich meine Zeilen von 2010 um diese Gedanken ergänzen:

    Leben ist nur so lange lebenswert, als es dem Menschen einen Spielraum lässt zu persönlicher und eigen.verantwortlicher Gestaltung. Ohne Zukunft ist das Leben hoffnungs.los – und in der Hoffnungs.losigkeit nicht leb.bar.

    Im Endstadium einer un.heilbaren Erkrankung befindlich vermag es ein mancher nicht, noch Quellen des Lebens.sinns in sich zu erschließen und Energien zu mobilisieren, die ihn solchen Schicksalsschlägen stand.halten lassen.

    Gabriel Marcel, der Wichtigstes und Gültiges zur Hoffnung schrieb, bezeichnet

    „die Hoffnung als den Akt, durch den die Versuchung zur Verzweiflung aktiv und sieg.reich überwunden wird.“

    Was aber, wenn alle Hoffnung bereits geschwunden ist?

    Hoffnung gegen alle Hoffnung?
    Wie soll das gehen?!

    Hoffnungs.lose wollen nicht in einer perennierten Lebens.lüge leben, in einer Verschleierung des Erkennens und ihrer Lebens.wirklichkeit, sie wehren sich zu Recht, in eine Dimension der Träumer, der Illusion und Lüge katapultiert zu werden. Wenn man zudem bedenkt, dass „hoffen“ vom Wort.ursprung her mit „hüpfen“ zusammenhängt, also ur.tümlich bedeutet „in Erwartung aufspringen“, wenn somit lebendiger Hoffnung stets das Element der Freude beigesellt ist, dann mag man rasch ermessen, in welches abgrund.tiefe Dunkel einer mensch.lichen Seele man blickt, die nur noch mit ir.reversibel un.säglichem Leid verschwistert ist.

    Ich habe im ersten Beitrag das Tragische im menschlichen Da.sein in einigen Schlaglichtern angeleuchtet, die Misere, aus der Verzweiflung wächst und wo der Tod der letzte Ausweg und zugleich Gnade ist.

    Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat mit Abstand die subtilsten Aussagen zum Phänomen der Verzweiflung gemacht, gleichermaßen wahr wie erschütternd und von letzter psychologisch.philosophischer Stringenz:

    „So heißt also krank zum Tode sein, nicht sterben können, doch nicht so, als wäre noch Hoffnung auf Leben, nein, die Hoffnungs.losigkeit ist, dass selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht besteht.

    Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft man auf das Leben; wenn man aber die noch schrecklichere Gefahr kennen lernt, hofft man auf den Tod.

    Wenn also die Gefahr so groß ist, dass der Tod die Hoffnung geworden ist, dann ist die Verzweiflung die Hoffnungs.losigkeit, nicht einmal sterben zu können.“

    Von ihm stammt auch ein sehr schönes und wahres Wort:

    „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts.“

    Wenn es aber partout kein „Vorwärts“ mehr gibt?

    Es kann (fürwahr!) Gnade sein, sterben zu dürfen. Es kann aber auch Gnade sein zu erkennen, „es“ sei vollendet und man dürfe nun selbst den Weg – aus der Erd. oder Körper.anhaftung heraus – ins un.begreif.lich.körper.un.gebundene Sein ewigen und geistigen Lichts gehen, zu gehen wagen.

    In nicht einem einzigen Falle sind wir befugt, suizidales Handeln von außen zu beurteilen, und der Innenraum des anderen Menschen ist uns verborgen, und gerade in ihm erschließt sich dem Suizidanten ein Problem als (für ihn!) absolut, und so vertraut er sich gewissermaßen dem letzten Gnaden.weg der Natur an, wenn er inmitten der ihm evidenten Ausweg.losigkeit den Ausweg nach rückwärts „wählt“.

    Nie ist die Welt „enger“ als in der „Ang“st, die zum Tode führt, und nie ist ein Mensch weniger zu einer freien Ent.scheidung über das Da.sein im Ganzen imstande als in dem Augenblick, wo er allen Begrenzungen des Daseins durch eine absolute Negation meint entrinnen zu müssen – ein Teil.bereich des Da.seins ( = eben sein Problem) erscheint als die ganze Wirklichkeit.

    • Das Mädchen, das sich mit 17 Jahren nach einer Vergewaltigung vor einen Zug werfen will, hat durchaus nicht die Absicht, ein Urteil über das Da.sein im Ganzen abzugeben. Es will auch weder die Nichtig.keit des Da.seins manifest machen noch die Seins.dichte des rundum liegenden Seienden, rand.voll mit Glück und Erfolg, negieren – es will lediglich die Konsequenz aus der Tatsache ziehen, dass es so wie bisher nicht weiter.leben kann und dass ihm bestimmte Personen, Ängste, Schuldgefühle oder Zwänge den Weg zum („normalen“) Leben scheinbar end.gültig versperren – das „Un.leben“, in das es sich verbannt sieht, will/kann es nicht länger aushalten!

    Ich beschwöre nochmals das ganze Drama tragischen Geschehens im mensch.lichen Da.sein herauf, mit un.endlichem Leid und kaum er.tragbarer Not, mit un.aushaltbaren Schmerzen in Fällen un.heilbarer Krankheit im finalen Stadium:

    Angenommen, ein Mensch ist medizinisch völlig austherapiert, ein Mensch hat alles erreicht, was er sich vorgesetzt hat, und sieht kein Ziel mehr, keinen Auftrag, keine Möglichkeit, keine Hoffnung auf Besserung oder Änderung, keine Bestimmung seines Lebens, um ihm noch eine Richtung geben oder einen Sinn.funken entlocken zu können – warum soll er dann nicht den Zeit.punkt des Todes selber wählen können, warum soll er dann nicht bitten dürfen, dass man ihm hierbei hilft, warum soll er um diese Bei.hilfe nicht ersuchen dürfen, auch im Wissen darum, dass Leiden an sich sinn.los ist und er einfach nicht mehr NUR leiden will?

    Für viele Menschen erscheint diese Frage schockierend, zumal wenn man sie auf eine einzelne Handlung, auf einen einzelnen Tötungs.akt bezieht, aber die Grenzen zwischen Einsicht in die Begrenzt.heit des Da.seins einerseits und der willentlichen Begrenzung des/dieses individuellen Daseins andererseits sind bereits psychosomatisch äußerst fließend. Denn immer mehr beginnt die Erkenntnis Platz zu greifen, dass es nicht länger angeht, den Tod – wie bislang in der herkömmlichen Medizin – mit allen Kräften und Mitteln und Instrumenten wie ein wildes Tier zu jagen, sondern dass es darauf ankommt, den Tod als einen Teil des organischen Lebens zu akzeptieren und ins Leben zu integrieren.

    Gut, dem versucht man zwischenzeitlich in Sterbe.kliniken und Hospizen insofern gerecht zu werden, als man bestrebt ist, den Tod, statt ihn zu bekämpfen, wie einen Freund zu empfangen und sich auf sein sicheres Kommen vorzubereiten. Aber was dann, wenn man bei allem inneren Einverständnis mit dem Tod, bei allem Wissen um die letzte Ausweglos.igkeit der irdischen Existenz, nicht mehr – nur noch leidend – darauf zu warten imstande ist, sondern das Ende will, assistiert durch Familienangehörige, Freunde und Pflegedienst, zugelassen oder herbei-geführt durch ärztliches Tun?

    Will.kürliche Lebens.ver.längerung,
    will.kürliche Lebens.ver.kürzung
    – das ist hier die Frage.

    • De facto arbeitet die Medizin doch tagaus, tagein un.ermüdlich an einer „will.kürlichen“ Verlängerung unseres Lebens. Man muss sich aber fragen dürfen, ob es für die Medizin ein Recht, womöglich eine Pflicht geben kann, das körperliche Lebens eines Menschen, z.B. eines Suizidalen oder Moribunden, auch dann noch aufrechtzuerhalten bzw. zu verlängern, wenn dieser selbst angesichts seines ir.reversiblen Leidens.zustand durchaus nicht mehr leben will. Gerade weil ich überzeugt bin, dass nach dem Tod nicht „alles aus“ ist, kann ich mich mit einer Verlängerung des Lebens um jeden Preis nicht eigentlich anfreunden.

    • (Am Rande vermerkt: auch die Vorstellung, ein christlicher Gott der Liebe und Barmherzigkeit könne etwas dagegen haben, dass Menschen die letzte Strecke ihres Sterbens verkürzen, ist un.haltbar – und hätte der Gott diese Ansicht, so sollte er sie schleunigst ändern. Ganz ohne Ironie ist damit gemeint, dass das Gottesbild, auf das sich jene Ansichten berufen, einer Revision bedarf).

    Gewalt kann auch ausgeübt werden, wenn man einen Menschen zwingt, zu leben, und das Problem der Gewalt ist der eigentliche Kern der Frage, inwieweit man ein Leben verkürzen oder verlängern darf:

    Nicht das Leben, den Lebenden muss man fragen, wenn man darauf eine sinn.volle Antwort bekommen will, wobei ich mit Nachdruck auf das verweise, was ich zur Würde des Menschen, zu seiner un.verlierbaren Geistigkeit und insbesondere zum personalen Gewissen ausgeführt habe. Nicht für jeden kann der weltanschauliche Ansatz gültig sein, wonach hinter allen (denk. und vorstell.baren) Umständen des Sterbens oder Sterben.müssens die Fügung Gottes zu sehen und das Sterben als solches anzunehmen sei, und wonach Leben Gabe sei und nicht Besitz, weshalb es weder will.kürliche Lebens.verlängerung noch will.kürliche Lebens.verkürzung geben könne/dürfe. Man kann das Sprechen von Gott nicht mit der Beschreibung der Natur verwechseln, oder, philosophisch gesprochen, die Lücke der Erkenntnis zwischen der intellegiblen und der phänomenalen Welt ist nicht zu schließen.

    Tötung als ultima ratio in einem wirklich überzeugend un.erträglichen Leidens.zustand und als Ausnahmefall von der Regel des generellen dekalogischen Tötungs.verbots?

    In dieser Situation steht jeder Mensch allein vor seinem Gewissen bzw. vor seinem Gotte und kann sich auf keine rechtfertigenden Normen berufen.

    Dies alles, liebe Evelyn, ist nur ein liebe.voll.bescheidener Anstoß zur Reflexion, der noch ergänzt werden müsste um die Thematik ethischer Güterabwägung, Autonomie und Selbst.bestimmung, vorallem aber um die Wichtigkeit von Barmherzigkeit, Mit.leid und Mit.gefühl.
    Herz.lich, Dein Bernhard

  • 7. Evelyn

    Kommentar vom 18. September 2012 um 13:30

    Lieber Bernhard,

    meinen Dank dafür, daß Du Dir die Zeit genommen hast, diese Deine Gedanken hier niederzuschreiben, die eine Bereicherung für uns alle sind. Ich wünsche Dir von Herzen innere Ruhe und Frieden.

    Herzlichst
    Evelyn

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