Loslassen – Abschied – Leben (Part 3/4)

Dr. Bernhard A. Grimm

„Das Paradies pflegt sich erst dann als Paradies zu erkennen zu geben, wenn wir daraus vertrieben wurden“

(Hermann Hesse)

Part III
Nicht festhalten, loslassen ist „angesagt“

Das einzig Sichere im Leben ist die stetige Veränderung. Die fließende Bewegung von Aufnehmen, Verarbeiten, Verdauen, Umwandeln und Abgeben – Loslassen! Leben ist Abschied, sage ich immer und immer wieder. Aber Leben ist auch grundsätzlich Alterung, und das heißt:

© Andrea Marchetti

Leben und Älterwerden sind eigentlich identisch dann, wenn Wachstum und Entwicklung ein perpetuum mobile sind von Abbau alter und Aufbau neuer Strukturen.

Wenn Altwerden also auch Leben ist – und das ist so -, dann müsste allenthalben gelernt werden bzw. dann müssten wir endlich begreifen, dass und wie sehr gerade Altwerden mit Abschied, näherhin mit Hergeben-Müssen und Loslassen, mit Verzicht verbunden ist.

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Ist der Abschied die Trennung von einer Person – und in einem langen Leben wird dies tausend mal der Fall sein – kann daraus emotionale Erstarrung entstehen, Enttäuschungswut über das Verlassenwerden oder Verlassenmüssen oder Verzweiflung über das Verlassensein. Es können negative Gefühle so sehr wuchern, dass uns Freude und Vertrauen in unser Leben abstirbt.

Abschied kann aber auch „gelingen“, wenn wir beispielsweise durch Affirmationen eine Haltung erlangen, die den anderen weder mit Vorwürfen noch mit Forderungen konfrontiert, sondern die volle Verantwortung übernimmt für die Beziehung und für die Trennung. Dazu gehört auch die Bereitschaft zu sagen:

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    „Falls ich Dir Schmerz zugefügt habe, bedauere ich dies und bitte Dich dafür um Verzeihung.

  • Was ich an Gutem habe geben können, habe ich gerne gegeben und lasse es bei Dir.
  • Ich muss auch akzeptieren, dass ich Dir nicht habe mehr geben können.
  • Was Du mir gegeben hast, dafür bin ich dankbar.
  • Du warst wichtig für mich, und unsere Beziehung war ein wichtiger Teil meines Lebens, das ich nunmehr anders, jedenfalls ohne Dich weiterführen werde.“

Kaum etwas anderes scheint der Mensch aber schwerer zu erlernen als dies:

  • zu verzichten,
  • sich einzuschränken,
  • loszulassen,
  • sich eine innere Freiheit zu schaffen, die nicht sklavisch an materielle Werte, an körperliche Funktionen und Vorzüge, an intellektuelle Kapazität und Wendigkeit, an Zeit kettet.

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Gerade der Mensch einer Konsum- und Erlebnisgesellschaft, in der die Suche nach Befriedigung zur Gewohnheit geworden ist und in der die Angst vor dem Ausbleiben von Erlebnissen desto größer ist, je vorbehaltloser Erlebnisse und Befriedigungen zum Lebenssinn schlechthin gemacht werden, dieser Mensch unserer Gegenwart fängt mit dem Erlernen einer Verzichtshaltung oftmals schon gar nicht erst mal an.

Die Fähigkeit zum Verzicht indes kennzeichnet die psychische Reife eines Menschen. Verzicht ist eine psychische Qualität und in der Fähigkeit, loslassen zu können, erreicht die Willensbildung eines Menschen ihre besondere Ausprägung.

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Festhalten, Festklammern – das macht unfrei. Dinge mehren, scheffeln, endlos anhäufen – dafür zahlt man schlussendlich den hohen Preis der Angst, das Gewonnen wieder zu verlieren, wohingegen Loslassen Freiheit bedeutet und Unabhängigkeit.

Wer nie zu verzichten gelernt hat, wird dann auch mit der Tatsache und mit den Beschwerlichkeiten des Älterwerdens = auch Leben = Abschied sicherlich nicht fertig zu werden imstande sein. Nicht jeder kann beispielsweise die humorige Aussage des Philosophen Immanuel Kant nachvollziehen, wenn er hinsichtlich einer Altersgebrechlichkeit sagt:

„Meine Schwerhörigkeit hat immerhin den Vorteil, dass ich den Unfug nicht hören muss, der in meiner Umgebung immer wieder verbreitet wird.“

Sehr treffend bringt es der spirituelle Lehrer Parvathi Kumar auf den Punkt, wenn er schreibt:

„Alles, was wir festhalten, das hält uns fest“.

 

 

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Neben dem kurzen Wort „Ich“ ist sicherlich das Possessivpronomen, das Besitz anzeigende Fürwort „MEIN“ das meist gebrauchte Wort unserer Sprache. Wenn wir uns vor Augen halten, wessen wir im Laufe unseres Lebens verlustig gehen, was wir abgeben müssen, was uns genommen wird, was wir verlieren, dann wird deutlich, dass in Wirklichkeit nichts von all dem, was wir für „MEIN“ halten, tatsächlich unser Eigentum ist:

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Weder materielle Güter, noch Schönheit und Jugendlichkeit, auch nicht Gesundheit, am allerwenigsten Menschen. Alles, aber wirklich alles, was wir mal mehr, mal weniger zur (freien) Verfügung haben, ist eine Leihgabe, mit der wir – um im Fußballjargon zu sprechen – eine Spielzeit lang spielen dürfen: Wenn das Spiel unseres Lebens dann aber abgepfiffen wird und wir das Spielfeld verlassen müssen, dann können wir nichts, aber auch gar nichts von all den schönen Dingen mitnehmen, auch keine Menschen, nur uns selbst.

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Manchen Menschen mag es einigermaßen gelingen, von Dingen loszulassen, schwieriger wird es schon, wenn es um das Loslassen gegenüber unseren Kindern, Partnern und Freunden, gegenüber unseren Lieblingsideen, Vorurteilen, Glaubenssätzen, Vorstellungen und Plänen geht, wobei die Liste der Festhaltungen leicht verlängert werden könnte. Einerseits kostet es uns sehr viel Energie, all das festzuhalten, andererseits tun wir es um den verdammt hohen Preis, es doch abgeben zu müssen – und das kostet dann noch mehr Energie und psychischen Kraftaufwand.

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Aber nur wenn wir uns permanent einüben in die Kunst des Loslassens, fällt es uns auf Dauer leichter und wir können uns heiter(er) und ohne Verkrampfung dem ständigen Wandel des Lebens, dem Entstehen und Vergehen, dem Kommen und Gehen anvertrauen und im Fluss der Zeit und Schöpfung sein.

Das ganz bewusste Einüben ist wichtig, denn der Mensch handelt nicht nur gemäß dem, was er nun mal seiner genetischen und psychosozialen Disposition nach ist (Prägung durch Charakter, Erziehung und Umwelt), sondern – und gerade das ist wesentlich! – er „wird“ auch, wie er handelt.

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Verdeutlicht heißt das: Wird oft in derselben Art und Weise gehandelt, was voraussetzt, dass oft in derselben Art und Weise entschieden worden ist, dann entsteht eine bestimmte Haltung, ein Habitus, eine  Handlungsdisposition bei einem Menschen, die ich in einer Kurzformel so auf den Punkt bringen will:

Aus Handlung wird Haltung
(ex actu fit habitus, sagt der Lateiner).

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Die Haltung repräsentiert gleichsam die Fülle bereits getroffener Vorentscheidungen. So setzt auch Tugend als Handlungsdisposition Übung und Gewöhnung voraus, sie ist gleichsam durch unzählige Einzelakte zum persönlichen Handlungsstandard „gefroren“. Wer Loslassen demnach als Haltung internalisiert hat, „erspart“ es sich eigentlich, immer wieder neu (und mühsam) sich entscheiden zu müssen.

Das Feld des Loslassens ist unübersehbar groß. So heißt loslassen auch: Unerfreuliche Beziehungen zu beenden, einen Schlußstrich unter ein verlustreiches Objekt zu ziehen, falsche Entscheidungen wieder rückgängig zu machen, sich von (zu) hoch gesteckten Zielen lösen.

Auch das Nicht-aufhören-Können ist ein Indiz für die Unfähigkeit loszulassen – diese Beharrungstendenz sehen wir bei so manchem Prominenten überdeutlich und wir halten solche Leute für bedauernswert:

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  • So „muss“ Johannes Heesters noch mit über 100 Jahren auf der Bühne auftreten
  • Inge Meysel war mit 90 Jahren in den Medien noch allgegenwärtig
  • die 98jährige Leni Riefenstahl tauchte nicht nur tief in die Meere, sondern immer wieder auf Veranstaltungen auf
  • der Intendant der Bayreuther Festspiele, Wolfgang Wagner, klebt an seinem Patriarchenstatus und will partout seinen Platz nicht räumen.

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Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Wir verstehen nicht, wie man nur so sehr an Macht, Ruhm und Applaus hängen kann und es nicht schafft, in Würde eine Karriere zu beenden und nicht bis zum letzten Atemzug dem Erfolg hinterher zu hecheln.

Wenn es jedoch um uns selber geht, haben wir oft einen blinden Fleck: Auch wir klammern uns an einmal gefasste Ziele und Projekte und geben sie nicht auf, selbst wenn sie längst aussichtslos geworden sind – auch wir trennen uns nicht von Menschen, die uns im Grunde nur schaden – auch wir ziehen nicht aus, obwohl uns die Wohnung viel zu laut ist – auch wir suchen uns keinen neuen Arbeitgeber, obwohl der Chef ein Ekel ist und uns die Arbeit keine Freude mehr macht.

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Wann haben wir die innere Größe einzugestehen, einfach nicht mehr zu können, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, uns geirrt zu haben oder für etwas zu alt zu sein – und dann konsequent loszulassen mit der Orientierung auf etwas Anderes, Neues?

Sicherlich sind die Überbewertung der Ausdauer, des Beharrens, die Angst vor Gesichtsverlust oder das Gefühl, schon zu viel investiert zu haben, wichtige Barrieren, die uns vor dem Loslassen und Aufgeben ausbremsen. „Tiefere“ Ursachen nennt die Psychotherapeutin und Dozentin am C.G.-Jung-Institut in Zürich, Verena Kast:

 

 

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„Trennen heißt meistens, Vertrautes loslassen und sich in Unvertrautes hineinwagen, das macht uns Angst oder Wut, erfüllt uns mit Gefühlen von Unsicherheit und Verlassenheit“.

Um solche quälenden Gefühle zu vermeiden, macht man lieber weiter, hofft infantil, das Schicksal werde es für uns schon richten, oder glaubt, wer nichts tut, tue nichts Falsches. Wer jedoch passiv an nicht mehr lohnenswerten Zielen festhält, bringt sich um die Chance, Neues kennen zu lernen und seinem Leben möglicherweise eine ganz andere, eine positivere Wende zu geben.

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Vielleicht verlieren wir die Angst vor der Loslösung und vor dem unvertraut Neuen, wenn wir zutiefst internalisieren, dass Leben grundsätzlich Abschied, Trennung und Loslassen bedeutet, auch für den, der sich dagegen aufbäumt, und wenn wir aufhören zu vergessen, dass wir tatsächlich nichts endgültig und auf „ewige“ Dauer festhalten können, sondern gut daran tun, „abschiedlich leben“ zu wollen.

Und das heißt: Wir müssen uns unaufhörlich bemühen – jeden Tag und jede Minute neu -, Abschied zu nehmen auf eine neue Zukunft hin, eben weil doch das Leben ein großer Prozess permanenter Veränderung ist, in den wir unerbittlich eingebunden sind und dessen Regeln wir jedoch nicht immer ganz verstehen.

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Es tut uns psychisch und emotional sehr gut, wenn wir es zu unserer Aufgabe machen, eine abschiedliche Existenz führen zu wollen, und das bedeutet, sich vom Leben brauchen zu lassen, sich einzulassen auf das, was jetzt in diesem Augenblick ist und ansteht. Wenn wir aber den einmal eingeschlagenen Weg stur weiter gehen, auch wenn die Richtung falsch zu sein scheint, wenn wir uns nicht auf das Leben mit seinem ständigen Wandel einlassen, wird das Leben nicht weniger vergänglich – es wird bloß weniger intensiv.

Part IV – folgt

Herz.lichst,  Bernhard A. Grimm


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