Das Kind in uns – Wie finde ich zu mir selbst

Autor ist John Bradshaw

Viele unserer alltäglichen Probleme haben eine gemeinsame Wurzel: eine unverarbeitete Kindheit. Der bekannte Familientherapeut zeigt, wie man zu dem Kind, das man einmal war, zurückkehren kann, um befreit mit der Kindheit abzuschließen und zu einem erfülltem Leben zu gelangen.

Viele praktische Ratschläge und Fragebögen bieten Hilfe zur Selbsthilfe und begleiten jeden Suchenden auf dem Weg zum Ursprung seiner Probleme.

Ein Auszug aus dem Buch zum Thema „Denkstörungen“:

© Andrea Marchetti

Jean Piaget nannte Kinder „kognitive Fremdlinge“. Sie denken anders als Erwachsene und neigen zum Absoluten. Ihr Denken ist durch ein Alles-oder-Nichts-Prinzip gekennzeichnet. Wenn du mich nicht liebst, dann haßt du mich. Dazwischen gibt es nichts anderes. Wenn mein Vater mich verläßt, werden mich alle Männer verlassen. Kinder sind nicht logisch. Das läßt sich am besten an einem Pfänomen zeigen, das man „emotionales Argumentieren“ nennt. Ich habe ein bestimmtes Gefühl, also muß es so sein. Wenn ich mich schuldig fühle, muß ich eine verderbte Person sein.

© Andrea Marchetti

Kinder brauchen eine ausgewogene Erziehung, damit sie lernen, wie man das Denken vom Fühlen unterscheidet – wie man über Gefühle nachdenkt und ein Gefühl für seine Gedanken entwickelt.

Kinder sind egozentrisch, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie alles personalisieren. Wenn Dad keine Zeit für mich hat, bedeutet das, daß mit mir irgend etwas nicht stimmt. Kinder interpretieren die meisten Beschimpfungen so. Sie sind von Natur aus egozentrisch, ohne daß das ein Zeichen für Egoismus im moralischen Sinn sein muß. Kindern fällt es eben noch schwer, den Standpunkt eines anderen Menschen einzunehmen.

© Andrea Marchetti

Wenn die Bedürfnisse eines Kindes, die mit seiner entwicklungsbedingten Abhängigkeit zusammenhängen, nicht befriedigt werden, dominiert das Kind im Erwachsenen später dessen Denkweise. Ich kenne viele Erwachsene, die in dieser kindlichen Weise denken. „Amerika hat recht oder unrecht“ ist ein gutes Beispiel für dieses absolute Denken.

© Andrea Marchetti

Ich kenne mehrere Leute, die finanzielle Probleme haben, weil sie emotional denken. Sie glauben, wenn man etwas haben möchte, sei das schon Grund genug, es zu kaufen. Wenn der Mensch als Kind nicht lernt, Gedanken von Gefühlen zu trennen, wird er als Erwachsener das Denken oft dazu benützen, schmerzhafte Gefühle zu vermeiden. Er trennt dann sozusagen den Kopf von seinem Herzen.

Zwei Beispiele solcher Denkstörungen, die häufig zu beobachten sind, sind das Generalisieren und das Differenzieren.

© Andrea Marchetti

Das Generalisieren ist an sich noch keine Denkstörung. Alle abstrakten Wissenschaften erfordern Generalisationen und abstraktes Denken. Generalisierungen stellen aber dann eine Störung dar, wenn sie dazu dienen, uns von unseren Gefühlen abzulenken. Es gibt viele Menschen, die akademische Genies sind, aber kaum mit ihrem Alltagserleben fertig werden können.

Eine besonders verzerrte Form des Generalisierens ist die Schwarzseherei. Schwarzseherei ist, wenn wir abstrakte Hypothesen über die Zukunft aufstellen. „Was ist, wenn die Sozialversicherung kein Geld mehr hat, wenn ich pensioniert werde?“ Das ist ein schrecklicher Gedanke. Er erzeugt automatisch Angst. Da dieser Gedanke aber eine reine Hypothese ist, macht der Schwarzseher sich damit selbst Angst. Das verletzte Kind in uns denkt häufig in diesen Bahnen.

© Andrea Marchetti

Genau wie das Generalisieren stellt auch das Differenzieren eine wichtige intellektuelle Fähigkeit dar. Gegen eine detailorientierte und gründliche Denkweise ist nichts einzuwenden. Wenn aber dieses gründliche Denken nur den Zweck hat, uns von unseren schmerzhaften Gefühlen abzulenken, verzerrt es die Wirklichkeit unseres Lebens. Zwanghaftes, perfekttionistisches Verhalten ist ein gutes Beispiel dafür – wir konzentrieren uns auf das Detail, um unser Gefühl des Nichtgenügens zu überdecken.

© Andrea Marchetti

Beispiele für egozentrisches Denken können Sie überall finden, wenn Sie einmal darauf achten. Neulich hörte ich im Flugzeug das Gespräch eines Ehepaares mit. Die Frau sah sich die Ferienprospekte der Fluglinie an. Ohne sich etwas dabei zu denken, sagte sie, daß sie schon immer einmal gerne nach Australien geflogen wäre. Der Mann antwortete wütend: „Was zum Teufel, erwartest du eigentlich noch von mir, ich arbeite mich ohnehin schon kaputt!“ Das verletzte Kind in ihm glaubte, daß sie ihn für unfähig hielt, sie finanziell gut zu versorgen, nur weil sie gerne einmal nach Australien geflogen wäre.

Persönliche Anmerkung:

Wir denken bzw. glauben immer, daß das alles Unsinn ist. Doch wer das Buch liest, erkennt, wieviel Verdrängung wir selbst praktizieren, um die Verletzungen nicht mehr zu spüren.

© Andrea Marchetti

Auch wenn Angst da ist, alte Geschehnisse noch einmal anzusehen: es lohnt sich, denn so machen wir uns frei davon. Und wir erkennen, daß das Schweigen ganz üble Begleiterscheinungen für uns als Auswirkung hat.

Alle Menschen ist unserem Leben gaben zu jeder Zeit ihr Bestes, auch dann, wenn wir es anders sahen oder sehen. Und Eltern sind eben auch nur Menschen – und keine Wunscherfüllungsmaschinen.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen – und ganz, ganz viele Erkenntnisse 😉

Herzlichst

Evelyn

Mentorin auf Zeit


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