Wie Hartz IV gezielt klein gerechnet wurde

Auf allen TV-Kanälen, in der Presse und im Internet wird heftig diskutiert über die Anhebung des Grundsicherungsbetrages von 359,00 auf 364,00 EUR. Unsere Politiker sind stark dabei, diesen Wert zu rechtfertigen. Ich fand diesbezüglich einen interessanten Beitrag, den ich hier vorstelle:

Der Bundestag berät über die von der Bundesregierung geplanten Hartz-IV-Sätze. Die juristische Prüfung zeigt:  Sie müssten viel höher sein. Ein Gastbeitrag:

© Andrea Marchetti

Das sind die Hartz-IV-Pläne der Regierung: Erwachsene sollen fünf Euro mehr erhalten, die Sätze für Kinder sollen nicht steigen. Mit ihrem Gesetzentwurf, der an diesem Freitag in erster Lesung im Bundestag beraten wird, will die Bundesregierung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) umsetzen. Doch aus juristischer Sicht spricht vieles dagegen, dass das verantwortliche Arbeits- und Sozialministerium richtig gerechnet hat.

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Seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zufolge hält das BVerfG es grundsätzlich für zulässig, das sozialrechtliche Existenzminimum an den Konsumausgaben der ärmsten 20 Prozent der Haushalte zu messen. Der Gesetzgeber aber betrachtet nicht die untersten 20, sondern die untersten 15 Prozent. Das ist eine folgenschwere Weichenstellung, aus der alleine sich eine Absenkung des Regelsatzniveaus um mehr als 17 Euro gegenüber dem vorherigen Verfahren ergibt.

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Ob das BVerfG dies mittragen wird? Die unumwundene Begründung der Regierung, die Berechnung auf der Grundlage von 20 Prozent sei zu teuer, ist kaum überzeugend. Ohnehin stellt sich anlässlich der Vorgehensweise der Bundesregierung die Frage nach der Grenze einer solchen Politik:

  • Darf der Gesetzgeber das Einkommen der Referenzgruppe beliebig nach unten drücken?
  • Was spricht dagegen, dass er nach der nächsten Banken- oder Eurolandrettung nur die untersten zehn oder achteinhalb Prozent der Bevölkerung als Maßstab nimmt?

Hinzu kommt, dass der Erwachsenen zustehende Hartz-IV-Satz allein anhand der Einkommen und Verbrauchsausgaben von Alleinstehenden ermittelt wird. Zwar hatte das BVerfG dies nicht beanstandet. Doch die Einkommen und Ausgaben von Alleinstehenden erlauben keine Rückschlüsse auf den Bedarf von Erwachsenen in Mehrpersonen-Haushalten.

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Außerdem unternimmt die Regierung in ihrem Gesetzesentwurf keinen Versuch, die Gruppe der „verdeckt Armen“ aus der Referenzgruppe auszuscheiden, obwohl das BVerfG dies von der Bundesregierung gefordert hatte. In Deutschland machen unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 2,5 und 4,9 Millionen Menschen ihre Ansprüche nach dem SGB II und XII nicht geltend. In der Referenzgruppe sind sie weiterhin enthalten. Weil sie ein besonders niedriges Einkommen haben, sinkt dadurch das Leistungsniveau der Grundsicherungsempfänger.

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An weiteren Stellschrauben wurde gedreht, indem etliche durchschnittliche Verbrauchsausgaben als nicht regelsatzrelevant eingestuft wurden. Das schmälert den Hartz-IV-Satz zusätzlich erheblich.

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Natürlich kann trefflich darüber gestritten werden, ob Ausgaben für Alkohol, Tabak, Gaststättenbesuche, Schnittblumen, Gärten oder die Kosten der chemischen Reinigung zu einem menschenwürdigen Existenzminimum gehören. Jeder wird das anders sehen. Das BVerfG hatte das Verfahren grundsätzlich nicht beanstandet.

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Die Richter sagen: Der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen könne in einzelnen Ausgabepositionen vom durchschnittlichen Verbrauch abweichen. Der Gesamtbetrag von Hartz IV müsse es aber ermöglichen, „einen überdurchschnittlichen Bedarf in einer Position durch einen unterdurchschnittlichen Bedarf in einer anderen auszugleichen“. Ein interner Ausgleich muss möglich sein.

Unter der Hand wird zudem das Existenzminimum auf das rein „physische“ reduziert. Das BVerfG hatte jedoch darauf abgestellt, dass das Existenzminimum auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn „der Menschen existiert notwendig in sozialen Bezügen“.

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Die Bundesregierung ist der Meinung, dass die in der Referenzgruppe durchschnittlich getätigten Ausgaben für den Besuch von Restaurants, Gaststätten, Cafés, Imbissständen, Kantinen und Mensen nicht zum physischen Existenzminimum gehörten. Doch die soziale Teilhabe durch solche Besuche ist Bestandteil einer menschenwürdigen Existenz. Dass sie eingespart wird, macht sich mit weiteren 18 Euro bemerkbar.

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Um weitere 16 Euro wird der Bedarf durch den Abzug der Ausgaben für Alkohol und Tabak geschmälert. Besonders frappierend ist, dass auch Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahre unterstellt wird, sie konsumierten Tabak und Alkohol in demselben Maße wie Erwachsene. Auch ihnen werden entsprechende Aufwendungen vom Regelbedarf abgezogen. Das erklärt, dass die vormals „ins Blaue hinein geschätzten“ Hartz-IV-Sätze für Kinder zu hoch gewesen sein sollen, insbesondere für die über 14-Jährigen.

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Einen ähnlichen willkürlichen Methodenmix nimmt der Gesetzgeber bei den statistisch nachgewiesenen Ausgaben für die Mobilität vor. Statt die durchschnittlichen Mobilitätskosten der untersten 15 Prozent der Bevölkerung zugrunde zu legen, wurde im Rahmen einer Sonderauswertung nur das Ausgabeverhalten derjenigen Haushalte betrachtet, die keine Ausgaben für Kraftstoffe und Schmiermittel haben. Diese Haushalte sind jedoch die ärmsten. Die durchschnittlichen Ausgaben der Referenzgruppe für Mobilität liegen um knapp 19 Euro höher.

Vor allem kommt es zu einer erheblichen Unterdeckung des Mobilitätsbedarfes von Familien mit Kindern, die häufig im ländlichen Umfeld leben und fast immer ein Auto besitzen. Das zeigt sich auch daran, dass die ermittelten Werte für Kinder aufgrund zu geringer Fallzahlen (unter 25 Haushalte) keine repräsentativen Angaben erlauben.

– Von: Anne Lenze Datum: 29.10.2010 – 12:24 Uhr – Die Juristin Anne Lenze ist Professorin an der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Reform des Sozialstaats, Generationengerechtigkeit, Sozialversicherung und Steuerrecht · Quelle: ZEIT ONLINE

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Ein wahrlich interessanter Artikel! Überrascht war ich zu hören, daß die  bisher geleisteten Beiträge zur Rentenversicherungs (ich glaub das sind so um die 20,00 EU R/Jahr) nunmehr ab 01.01.2011 gestrichen werden sollen, ebenso das Elterngeld. Unter dem Strich sieht es  anscheinend so aus, als daß der Staat letztendlich mehr zurückbehält als dass er für die Arbeitslosen  mit den 5,00 EUR/mtl.  mehr ausgibt.

© Andrea Marchetti

Und wie viele Menschen, die von ALG II bzw. Hartz IV leben müssen, sind (aus welchem Grund heraus auch immer) in diese Situation gekommen? Wie vielen Menschen setzt diese Situation seelisch zu?  Wie oft werden sie schief angesehen? Bekommen sie psychologische Hilfe? Wird in den ARGEN der Mensch gesehen oder lediglich die Leistungsfähigkeit abgefordert? Und wie viele Menschen sind trotz ALG II bzw. Hartz IV auch heute noch ohne Krankenversicherung?

Wie geht es weiter? Es ist offensichtlich, daß hier Entscheidungen getroffen werden zu Lasten der Menschen, die sich am wenigsten wehren (können) und dennoch Teil unserer Gesellschaft sind; auch sie haben ein Anrecht auf Lebensqualität.

Welche Gedanken machen Sie sich zu diesem Thema?

Herzlichst

Evelyn

Mentorin auf Zeit

Nachtrag vom 25.04.2012

Diesen Artikel fand ich heute – demnach ist der Hartz IV-Satz verfassungswidrig, weil zu niedrig.


2 Kommentare

  1. 1. Gunter Schreyer

    Kommentar vom 21. November 2010 um 15:07

    Das Leben eines langzeiterwerbslosen Bürgers
    Seit über 13 Jahren erwerbslos, habe ich nach einem mir selbst versorgten Computerlehrgang 2002/2003 vom Sozialamt Chemnitz im Alter von 54 Jahren schriftlich bekommen:
    „aus Altersgründen sowie fehlenden Angeboten erfolgt keine Vermittlung in Arbeit! Akte wird archiviert “
    2006 war ich dann für einen „Ein-Euro-Job“ zu alt.
    http://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=1433&search=Schreyer&searchin=all

    17.07.2006 – von Gunter Schreyer
    Seit neun Jahren arbeitslos, Sozialhilfe-und Arbeitslosengeld-II-Empfänger wurde mir schon im Jahr 2003 vom Sozialamt Chemnitz mitgeteilt, dass ich aus Altersgründen in keine Arbeit mehr vermittelbar bin.

    Im vergangenen Jahr sagte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Frank-Jürgen Weise, dass man mit 55 keine Chance mehr auf einen neuen Job hat.

    Mir wurde jetzt mit 57 Jahren ein 1-Euro-Job angeboten. Da habe ich mich für eine Stelle in einem Internetcafé beworben. Da wurde mir gleich ins Gesicht gesagt, dass ich dazu zu alt wäre.

    Heute wurden wir zu einem Seminar bestellt, anschließend konnten gleich über die Hälfte wieder gehen, da über 30 Jahre.

    Seit sieben Jahren helfe ich Jugendlichen ehrenamtlich bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, indem ich freie Lehrstellen aus Tageszeitungen und Internet erfasse und auf meinen Lehrstellenmarkt veröffentliche.

    Im vergangenen Jahr wurde mir eine Kommunal-Kombi angeboten, was aber dann von der neuen sächsischen Regierung abgeschafft wurde.
    Der neueste Clou:
    Am 31.März 2010 wurde mir eine Stelle als „Assistent der Geschäftsleitung“ im Stadtvorstand der Linken angeboten, wo aber bereits am 15.März Bewerbungsschluss war.

    Seit Ende November 2007 ist mein Verzeichnis „Azubi-Seiten“ mit „Internet-Adressen ausbildender Firmen©“ in Deutschland in den PLZ-Bereichen von 0 – 9 als Taschenbuch, CD und E-Book erschienen. Hier haben Schüler die Möglichkeit sich zu orientieren, wer in der Region ausbildet.

    Auf das Verzeichnis mit „Internet-Adressen ausbildender Firmen©“ in Deutschland habe ich seit Februar 2007 Titelschutz http://www.titelschutzanzeiger.de/_data/ta809.pdf Seite 10.

    Aktuell hat mein Verzeichnis 237 Seiten in Word dreispaltig und kann im jeweiligen zweistelligen PLZ-Bereich per Mail angefordert werden.

    Für Österreich sind es bereits 13 Seiten.

    Ende 2006 hat sich Herr Müntefering in einem Schreiben für mein Engagement bedankt. http://lehrstelle2001.beepworld.de/muentefering.htm

    Im Jahr 2009 wurde ich als „Botschafter 2009“ von http://www.verbundnetz-der-waerme.de ausgezeichnet und am 08.Mai erfolgte die Übergabe des Botschafterbriefes in Chemnitz. http://petope.beepworld.de/chemnitzer.htm

    Vom 21.-24.Mai 2009 war ich auf Einladung der sächsischen Staatskanzlei Teilnehmer der Bürgerdelegation des Freistaates Sachsens zu den Feierlichkeiten „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ in Berlin

    Seit dem 23.08.2008 ist meine neue Homepage http://www.lehrstellenservice.info online.

    Aktuell habe ich jeden Tag über 350 Zugriffe, die ersten Ausbildungs-Angebote für 2012 und 2013 sind auch schon präsent.

    Mit freundlichen Gruß
    Lehrstellen-Service Schreyer
    Gunter Schreyer
    Straße Usti nad Labem 221
    D-09119 Chemnitz

  2. 2. Der Faustus Eberle

    Kommentar vom 11. Februar 2011 um 19:57

    Diese Debatte über die Hartz 4 Reform ist langsam kaum noch zu ertragen. Wer blickt da noch durch?! Ich finde es unglaublich was für eine Hinhalterei die Minister da betreiben. Wer hat danach eigentlich was davon? Etwa der einzelne Hartz 4 Empfänger? Ich denke das Bisschen bringt doch niemandem wirklich was. Aber kosten tut das unfassbare Millionen an Geld. Ich denke der Ansatz sollte ein anderer sein. Das Ziel muss sein, allen wieder einen Job zu beschaffen. Vielleicht sollte man mehr in die Arbeitgeber investieren.

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