Willst Du recht haben oder glücklich sein?

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Kurzgespräch:

Eva Mozes Kor, in Mengeles Experimenten gepeinigter Zwilling, berichtet über ihre Befreiung aus der Opfer-Rolle.

Eva Mozes Kor ist als Zehnjährige mit ihrer Zwillingsschwester Miriam Opfer der medizinischen Experimente Joseph Mengeles in Ausschwitz geworden. Die Schwestern gehörten zu den wenigen, die Mengeles Forschung und das Lager überlebt haben. Nach dem Tod ihrer Schwester begann für sie ein neues Leben.

Welzer: Sie vertreten seit einigen Jahren vehement eine Position, die man einer Überlebenden von Grausamkeiten nicht erwartet. Sie plädieren dafür den Täter zu vergeben.

Eva Mozes Kor: Ja und zwar deswegen, weil es dem Opfer hilft, gesund zu werden. Es geht dabei nicht so sehr um den Täter. Ich halte vor allem deshalb mehr von Vergebung als von Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit den Opfern nicht hilft. Ich bin gefragt worden, ob ich dafür gewesen wäre, dass Mengele zum Tode verurteilt worden wäre, gesetzt den Fall, man hätte in bekommen. Was hätte ich davon, wenn er Tod wäre? Mir wäre er lebend lieber gewesen, weil ich ihn dann hätte fragen können, was er mir injiziert hat. Mit Strafe und Gerechtigkeit kann ich als Opfer wenig anfangen. Verbrecher können bestraft und aus dem Verkehr gezogen werden. Solche Leute wären schwer zu rehabilitieren gewesen, so jemand muss aus dem Verkehr gezogen werden. Aber das alles nützt den Opfern nichts.

Welzer: Sie haben sich mit Ihrem Votum für Vergebung nicht nur Freunde gemacht.

Eva Mozes Kor: Allerdings!  Seit ich den Verbrechern vergeben habe, wollen 75 Prozent der Überlebenden nicht mehr mit mir reden. Sie verstehen nicht, dass es dabei nicht um die Täter geht. Für mich ist die Frage der Heilung entscheidend. Ich wollte in der Lage sein Ausschwitz zu besuchen und abends in eine Bar gehen und tanzen zu können. Ich habe mal erlebt, dass ein Journalist am Telefon darüber verwundert war, dass ich über irgendwas lachen musste. Ich fragte ihn, was er erwarte – ob es mir nicht erlaubt sei zu lachen, weil ich das Grauen überlebt
hatte?

Welzer: Sie werden in der Operrolle fixiert, weil die Leute Sie so sehen wollen und von Ihnen erwarten, dass sie sich genauso sehen.

Eva Mozes Kor: Ich lehne es einfach ab, die Rolle des Opers zu spielen. Als ich mit dem Vergeben begonnen hatte, fiel eine Last von meinen Schultern, die ich fast 50 Jahre lang mit mir herumgetragen hatte. Die Vergebung schafft einfach die Möglichkeit, dass ein Opfer wieder zu jemanden wird und man ist einfach ein ganz normaler Mensch. Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben.

Welzer: Ein Recht, das die Autonomie über sein Leben zurückgibt.

Eva Mozes Kor: Exakt: Ein Opfer ist eine Person, die jedem Geschehen hilflos, hoffnungslos und passiv ausgesetzt ist, das ihr widerfährt.

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Welzer: Die Trauma-Therapie zielt eigentlich auf das genaue Gegenteil. Die Ideologie des Durcharbeitens und Konfrontierens schreibt den Opferstatus fest, obwohl sie ihn zu beseitigen vorgibt.

Eva Mozes Kor: Ich bin in Therapie gewesen. Mein Therapeut hat zu mir gesagt, ich sei eigentlich viel zu normal für das, was mir widerfahren ist. Wenn man so will, hat er von mir erwartet, traumatisierter zu sein. Ich habe mir im Januar die Knöchel gebrochen. Als Opfer hätte ich gedacht: Ich habe mir den Knöchel gebrochen, weil die Ernährung in Ausschwitz so schlecht war. Es gibt für alles, was einem passiert, eine Erklärung, die Tat zurückführt. Tatsächlich hat vieles nicht das geringste damit zu tun, aber das ist die Art wie ein Opfer denkt. Wenn man aufhört Opfer zu sein, verschwindet das. Natürlich hat man immer noch Probleme, aber man denkt nicht: und wieder passiert mir das! Das macht einen riesigen Unterschied.

(Frankfurter Rundschau am 13.06.2003)


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