Insel des Vertrauens

© Andrea Marchetti

Am Anbeginn aller Zeiten, als es nur wenig Land in den Ozeanen der Welt gab, war es die Aufgabe des Windes den Lebewesen an Land zu dienen. Der Wind war mal als sanfte Brise und mal als Sturm unterwegs. Er liebte Gewitter, in denen er sich austoben konnte. Das Wolkenschieben machte ihm manchmal soviel Spaß, das er immer kunstvollere und größere Wolkentürme baute.

Dabei verlor er seine eigentliche Bestimmung immer häufiger ganz aus dem Blick. Anstatt sich um den Durst der Erde nach Regen zu kümmern, Blütenpollen von einer zur anderen Insel zu tragen und den Vögeln bei ihrer Reise zwischen den Inseln zu helfen, dachte er nur daran, kunstvolle Wolkentürme zu bauen.

Wo es nicht regnete, kam das Leben aber zum Stillstand. So enstanden an einigen Orten Wüsten. Der Wind flog gerne über diese Wüsten und sonnte sich in dem Gefühl, Herr über Leben und Vergänglichkeit zu sein. In seinen Augenwirkten seine Wolkentürme über den Wüsten besonders erhaben.

Die Sonne betrachtete das Treiben des Windes mit Sorge und stellte den Wind eines Tages, als er es wieder einma ganz toll trieb, zur Rede. Der aber lachte sie nur aus und nannte sie einen Spielverderber. „Ich mache was ich will, niemand kann mich daran hindern Leben zu spenden oder zu vernichten wenn ich es will, schau wie viele Wüsten ich schon geschaffen habe.“ Die Sonne war entsetzt, denn sie kannte den launischen Wind und schwieg, um ihn nicht noch herauszufordern.

Ein kleiner bunter Vogel lauschte dem Gespräch der beiden. Er flog in die Höhe und sprach zum Wind: „Ich schlage Dir eine Kraftprobe vor. Wenn Du sie gewinnst, dann helfe ich dir die Erde zu verwüsten. Wenn Du verlierst, dann dienst Du der Erde wieder, wie Du es einst versprochen hast.“

Der Wind wurde blind vor Wut, weil der kleine bunte Vogel mit ihm, dem mächtigen Wind, verhandelte. Sein Hass peitschte heftige Böen über das Land. „Wie lautet die Probe, der ich mich stellen soll?“ donnerte der Wind. Der kleine bunte Vogel antwortete: „Ich wohne auf der Insel des Vertrauens. Dort gibt es zwei Bäume. Einen mit starken Zweigen, zwischen dessen Blättern ein Meer von Sternen kreist und einen, dessen Äste aus Licht bis in den Himmel reichen. Bei Vollmond, wenn die Delphine um die Insel tanzen, leuchten die Baumstämme in den Farben des Regenbogens. Wenn es Dir gelingt, die Bäume auszureißen, dann hast Du die Kraftprobe gewonnen.“ Der Wind stimmte zu.

Zu seinem Erstaunen führte der Vogel ihn zu einer kleinen Insel, die ihm bisher gar nicht aufgefallen war. Er sah ein Leben auf der Insel und es gefiel ihm nicht. Die Freude und die Zuversicht hatten sich ein Haus gebaut. Der Glaube war dabei, Berge zu versetzen. An einem See bauten die Kreativität und die Phantasie ein buntes Windrad. Die Heiterkeit ging am Strand Arm in Arm mit der Furchtlosigkeit spazieren.

Der Wind war außer sich, die Bewohner der Insel so friedlich vereint zu sehen. Bald würden sie seine Macht anzweifeln. Er hatte das schon an anderen Orten erlebt. Am Ende würden sogar Wälder der Versöhnung wachsen, in denen sich der Wind nicht mehr austoben konnte. Dann würde es eines Tages keine Angst mehr auf der Erde geben. „Ich werde nicht nur die beiden Bäume ausreißen, sondern das ganze Leben auf dieser Insel vernichten!“ rief der Wind so laut, dass ihn jedes Wesen auf der Insel des Vertrauens hörte.

Die Leichtigkeit flatterte ängstlich zum Himmel empor und das Mitgefühl folgte ihr blitzartig. Die Anmut und die Schönheit reisten auf den Sonnenstrahlen von dannen. Die Weisheit tauchte vorsorglich auf den Meeresgrund ab. Die Intuition zog sich in das Innere des Vulkans zurück und die Unsicherheit versteckte sich unter der Erde. Auch die Hoffnung verschwand. Binnen kürzester Zeit hatten sich alle Inselbewohner in Sicherheit gebracht.

Die beiden Bäume aber verbanden ihre Wurzeln miteinander. Sie wussten, dass sie gemeinsam stärker waren als jeder allein.

Der Wind schickte Blitze des Stolzes und Donnerschläge des Zorns über die Insel. Windböen voller Sorgen und Zweifel folgten Orkanwinde des Schreckens. Die Bäume standen felsenfest. Da rüttelte der Wind als Tornado an den Stämmen und zerrte an ihren Wurzeln. Er verbündete sich mit dem Egoismus, um als Zyklon des Wahnsinns über die Insel zu toben. Die Sterne hielten ihren Atem an. Die Bäume bewegten sich im Wind um nicht zu brechen und hielten so dem Wind stand.

Plötzlich wehte kein Lüftchen mehr und eine friedliche Stille legte sich über die Insel. Der Wind hatte sich vollkommen verausgabt. Total außer Puste betrachtete er die beiden schönen Bäume. Der Wind sah sofort, sie waren besonders. Seine Kraft war gewaltig. Die Kraft der Bäume aber war anders. Ihre Namen waren Liebe und Freundschaft und ihre Kraft sanft wie eine Blume, die im Mondlicht blüht. Er fühlte sich den Bäumen verbunden und erkannte, das seine wahre Natur Verständnis hieß.

Von diesem Tag an verrichtete der Wind wieder seine Aufgabe. Nur ab und zu, wenn jemand auf der Erde es wagt, an der Kraft der Liebe und der Freundschaft zu zweifeln, zerzaust er demjenigen die Haare und flüstert ihm die Geschichte von der Insel des Vertrauens ins Ohr.

© R. Marohn


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