Loslassen – Abschied – Leben (Part 4/4)

Schlußakkord:

Verena Kast beschreibt „abschiedlich leben“ so:

„Halten und lassen, uns binden und Abschied nehmen, die Vergänglichkeit erleben und sie doch auch aufgehoben wissen in jenen seltenen Momenten des Erfasstseins, Umfangenseins von Liebe, von denen wir das Gefühl haben, dass sie ´ewig´ sind, und die uns diese  Vergänglichkeit auch transzendieren lassen; das fordert Leben angesichts des Todes – das verstehe ich unter abschiedlicher Existenz“.

© Andrea Marchetti

Abschiedlich leben heißt auch, sich am Heute zu erfreuen, denn morgen ist es schon wieder vorbei. Dann kommt etwas Neues. Was wir jetzt noch haben, das kann uns schon morgen wieder genommen werden. Man kann auch nicht unaufhörlich anhäufen, scheffeln und festhalten. Wo bleibt Platz für noch mehr, für gänzlich Neues? Es ist aber unumstößlich so:

Erst wenn wir die Hände wieder leer haben, wenn wir uns vom „Haben“ verabschieden, können wir auch wieder etwas nehmen.

So gesehen ist dann Abschied (= Loslassen!) das Alleralltäglichste,  wenngleich auch das Allerschmerzhafteste: Ohne Abschied ist überhaupt kein Leben möglich! Leben ist ein einziges Abschiednehmen, aber Leben ist auch grundsätzlich Alterung. Und das heißt:

Leben und Älterwerden sind eigentlich identisch, Leben und Altwerden gehören zusammen, denn unsere Uhr beginnt vom ersten Lebenstag an abzulaufen!

© Andrea Marchetti

Man kann zum Altwerden stehen wie man will, niemand wird jedoch ernsthaft anzweifeln wollen, dass Altwerden nun mal die einzige Möglichkeit ist, lange zu leben! Freilich gilt schon hier zu bedenken, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wie alt man wird, sondern wie man alt wird. Mit anderen Worten:

Wichtig ist nicht (unbedingt), immer noch mehr Jahre zum Leben hinzuzufügen, sondern mehr Leben zu den Jahren.

Zu guter Letzt:

© Andrea Marchetti

Nicht nur im Buddhismus, sondern in allen spirituellen Lehren ist das „Loslassen“ von großer Bedeutung. Was damit gemeint ist, vermittelt die nachfolgende Erzählung aus dem Zen – mit einem kleinen Schmunzeln und Augenzwinkern:

Tanzan und Ekido wanderten einmal eine schmutzige Straße entlang. Es fiel heftiger Regen. Als sie an eine Wegbiegung kamen, trafen sie ein hübsches Mädchen in einem Seidenkimono – es wollte die Kreuzung überqueren, konnte aber nicht.

„Komm her, Mädchen“, sagte Tanzan sogleich. Er nahm sie auf die Arme, trug sie über den Morast der Straße und setzte sie wieder ab.

Ekido sprach kein Wort, bis sie des Nachts einen Tempel erreichten, in dem sie Rast machten. Da konnte er nicht länger an sich halten und sagte: „Wir Mönche dürfen den Frauen nicht in die Nähe kommen, vor allem nicht den jungen und schönen“.

Tanzan antwortete: „Ich ließ das Mädchen auf der anderen Straßenseite stehen. Trägst du sie immer noch?“

© Andrea Marchetti

Es ist jedenfalls unmöglich, irgendetwas (endgültig) festzuhalten. Auch die Zeit nicht. Zeit ist nichts anderes als Fluss, und in diesem Fluss fließen wir mit. Wenn wir in unserem Verständnis und in unserem Empfinden so weit sind, dass wir wirklich mitfließen und jeden Widerstand gegen die Vergänglichkeit aufgegeben haben, dann werden wir merken, wie gut sich das anfühlt, wie frei dies macht und was das für ein Wohlbefinden in uns hervorruft. Wenn wir aufhören zu fließen, sind wir tot.

© Andrea Marchetti

Solange wir leben, muss alles fließen. Wir vergessen oftmals diese Selbstverständlichkeit, indem wir permanent Dinge und Menschen, Ereignisse, Emotionen und Situationen festhalten und speichern wollen. Dass wir in ständiger Bewegung sind, zeigt sich am Atem, am Herzschlag – wenn sich hier nichts mehr bewegt, sind wir tot.

Vergänglichkeit ist kein negativer Aspekt des Lebens, sondern die Grundlage des Lebens schlechthin. Wenn das, was existiert, nicht vergänglich wäre, ginge das Leben nicht weiter:

So muss ein Getreidekorn vergänglich sein, damit eine Getreidepflanze daraus entsteht – so muss ein kleines Kind vergänglich sein, damit es zum Erwachsenen reifen kann. Gerade weil das Leben vergänglich ist, ist es lebenswert und so hoch einzuschätzen und nötigt uns, es in jedem Augenblick zutiefst zu leben und verantwortungsvoll zu nutzen.

© Andrea Marchetti

Vergänglichkeit und daraus resultierend das Wissen, dass das Haften an etwas oder jemandem, dass das Festkrallen unfrei macht und zudem Angst schafft, doch alles zu verlieren, sind die Voraussetzung für Erneuerung und Entwicklung, und

die Kunst, mit der Vergänglichkeit zu leben, sich mit ihr zu arrangieren, ist die Kunst, immer wieder loszulassen und sich für Neues, Unerwartetes weit zu öffnen.

Loslassen ist nur vordergründig Trennung, Verlust, Alleingelassensein, Bedrohung – letztlich jedoch Gewinn!

Ernst Ferstl ver“dichtet“ diese Einsicht mit „Aufbruch“:

© Andrea Marchetti

Alte Gewohnheiten wie unnützen Ballast über Bord werfen,
die Gleichgültigkeit ausziehen wie ein verdrecktes Hemd,
die Fesseln der Angst durchtrennen
mit messerscharfer Zuversicht,
die Lebenslügen fortjagen über alle Meere.

Das Boot der Erneuerung anheuern,
das Segel der Hoffnung setzen,
die Kraft der Liebe ans Steuer lassen
und dem sicheren Hafen Aufwiedersehen sagen
– dem Leben in Fülle zuliebe“.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Ihr Bernhard A. Grimm


1 Kommentar

  1. 1. Dr. phil. Bernhard A. Grimm

    Kommentar vom 9. Mai 2010 um 19:43

    Meine Lieben,

    mit Part IV ist der Zyklus „Loslassen-Abschied-Leben“ zu Ende gebracht – ich hoffe sehr, dass er allen be.reichernde und be.fruchtende, inspirierende und nach.denkens.werte Impulse hat schenken können/dürfen.

    Das ganze Wissen um diese Grundthematik menschlichen Da.seins jedoch in die gelebte Wirklichkeit zu transferieren, ist sehr, sehr schwer, und ich weiß aus persönlicher Erfahrung, jeden Tag aufs Neue, dass man mit diesem Bemühen erst fertig wird,wenn wir die körperliche Existenz verlieren und als reines Geistwesen ins LICHT gehen.

    Mir und allen wünsche ich bestmögliches Gelingen bei dieser Lebens.aufgabe und möchte dieses Thema mit ein paar Zeilen zusammenfassend ver“dichtet“ sehen:

    LOSLASSEN:

    die Dinge kommen und gehen lassen,
    begrüßen und Abschied nehmen,
    am Tag leben und genießen,
    in der Nacht ruhen,
    anstatt am Tag von der Nacht zu träumen
    und in der Nacht den Tag herbeizusehnen.

    Nichts bleibt wie es ist,
    und doch ist nichts verloren.
    Was ich erlebe, bewusst wahrnehme,
    bleibt in meiner Erinnerung erhalten.
    Alles was ich tue oder nicht tue,
    verändert den Lauf der Dinge.

    Bist du glücklich,
    GENIESSE ES
    aber höre auf damit,
    DAS GLÜCK
    FESTHALTEN
    ZU WOLLEN

    LASS ES LOS
    DENN ES IST IN DIR
    Mit herz.lichen Grüßen, Bernhard A. Grimm

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