Loslassen – Abschied – Leben (Part 2/4)

Dr. Bernhard A. Grimm

„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir Abschied nehmen“.
(Albert Schweitzer)

Part II:
Leben IST nicht nur Abschied –
es ENTSTEHT aus dem Abschied

Wenn wir anfangen, die Erkenntnis, dass das Leben nicht nur permanent im Wandel begriffen, sondern begrenzt ist, auf unser eigenes Leben zu beziehen, stellt sich für uns die existentielle Frage, ob wir die vielen Abschiede in unserem Leben – von denen der Tod der letzte ist – als notwendige Abschiede und Übergänge begreifen oder aber bekämpfen wollen. Dabei hängt alles davon ab, wie wir unsere Sterblichkeit verstehen.

© Andrea Marchetti

Man erinnere sich kurz an den biblischen Mythos vom Sündenfall:

„Von den Früchten des Baumes in der Mitte des Gartens dürft ihr nicht essen, sonst müsst ihr sterben“ (Genesis 3,3).

Abseits schultheologischer Interpretation, wonach der „Tod der Sünde Sold“ (Römerbrief) ist – die Strafe Gottes also für den als Sünde verstandenen Ungehorsam der Menschen -, behaupte ich nun:

Der Tod ist keineswegs Folge der „Ursünde“ Evas und Adams mit der Folge der Vertreibung aus dem biblischen Paradies. Aber dies ist zu bedenken: Um Menschen zu werden, wie wir Menschen sind, war der Abschied aus dem, was von uns heute niemand mehr als „Paradies“ erleben würde, notwendig – das wissen biblischer Vertreibungsmythos, Medizin,  Tiefenpsychologie und manche Philosophen in gleicher Weise: Unser aller Vertreibung aus jenem „Paradies“ war und ist notwendiger Abschied ins Leben, kürzer: lebensnotwendiger Abschied gewesen.

© Andrea Marchetti

Gleich will ich erklären, was ich damit meine, wenn ich vorher noch gesagt habe, dass unsere Hebammen, die die einzelnen Neugeborenen in dieses Leben „heben“, die Phase am Eingang ins Leben auch „Austreibung“ nennen.

Paradies ist für mich nicht das Schlaraffenland der Bibel, sondern auf  anderer, kulturanthropologischer Ebene ein perpetuierter  Embryonalzustand. Nun ist es doch so, dass ungeborene Embryonen sich in ihrem „Paradies“ zu Tode wachsen würden, gäbe es die Austreibung nicht. Der Körper des Menschen ist so beschaffen, dass die Frauen ihre Kinder nicht in sich behalten können, ohne dass beide daran sterben. So ist nun mal der Frauenkörper geschaffen, und jeder von uns hat ihn als seine erste irdische Heimat so erlebt. Deshalb kann ich sagen:

© Andrea Marchetti

Die „Austreibung“ ist die Vertreibung ins Leben und zum Leben!

Die Nabelschnur wird durchschnitten, und nunmehr ist das Geschöpf Mensch in die Selbstständigkeit und Einzigartigkeit seines individuellen Daseins entlassen.

Wer weiterhin daran Zweifel hegen wollte, dass und wie sehr Leben Abschiednehmen bedeutet, der mag sich stets an diesen Passus erinnern mit der, meine ich, fundamentalen Aussage:

© Andrea Marchetti

MENSCHLICHES LEBEN IST DAS „ERGEBNIS“, DIE FOLGE EINES ERSTEN, EINES GANZ WESENTLICHEN UND FUNDAMENTALEN ABSCHIEDNEHMENS!

Das Leben des Kindes, das Leben eines jeden Menschen beginnt also mit der körperlichen Trennung von der Mutter. Es ist ein gewaltiger Einschnitt, wenn das Kind die Geborgenheit des Mutterleibes verlässt und dann die Reise ins Leben beginnt. Wiewohl die Geburt ein Abschied ist aus dem totalen Versorgtsein durch die Mutter, so ist sie zugleich ein Start in ungeahnte, neue und abenteuerliche Erlebnis- und Erfahrungswelten.

So ist die Geburt wie nahezu jeder ABSCHIED NICHT VERLUST, SONDERN GEWINN, der Anfangspunkt für etwas Neues, eigentlich der große Auftakt aller Grundthemen menschlichen Lebens: Abschied – Neuanfang, Loslassen – Entwicklungschancen, Einschränkung – Freiheit, Weggehen – Heimkommen.

© Andrea Marchetti

In der Analytischen Psychologie wird immer wieder – in der Nachfolge Sigmund Freuds – darüber nachgedacht, inwieweit alle wesentlichen Äußerungen unserer Psyche auf den Vorgang der Geburt, auf das „Trauma der Geburt“ als des Urvorgangs aller Abtrennungen und Angst zurückgeführt werden könnten.

Ein Geburtstrauma im wortwörtlichen Sinne gibt es nicht, wie Filme des  Säuglingsforschers und Entwicklungspsychologen René A. Spitz, die er während der Austreibungsperiode der Geburt aufnahm, nahe legen: Sie zeigen zwar unmittelbar nach der Geburt eine kurze Atemnot und eine zum Teil negativ getönte Erregung, die aber buchstäblich innerhalb von Sekunden abklingt und einem vollkommenen Ruhezustand weicht. Wie dem auch sei, ich bin jedoch davon überzeugt, dass jedem späteren Angsterleben letztlich die Geburtsangst zugrunde liegt.

© Andrea Marchetti

Man darf nämlich nicht vergessen, dass im Moment der biologischen Geburt des Fötus der Mensch zwar körperlich, aber noch nicht emotional geboren wird, d.h. eine enorme Masse an Gefühlen (und natürlich auch an körperlichen Energien), die sich über die vielen Stunden der Geburt hinweg angestaut haben, bleiben dem Menschen für den Rest seines Lebens oftmals belastend erhalten.

© Andrea Marchetti

Auch für die Transpersonale Psychologie ist das so genannte Geburtstrauma der Schlüssel zu vielen seelischen Störungen. Aus Erfahrungsberichten in verschiedensten Formen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände weiß sie, dass ein Mensch, wenn er die eigene Geburt nur unvollständig aufgearbeitet hat, seine ganze Existenz als eine einzige Tretmühle erlebt und sich als von seinem inneren spirituellen Kern abgeschnitten erfährt. Das verwundert auch nicht, wenn man bedenkt, dass die Geburt ein potentiell oder tatsächlich lebensbedrohliches Ereignis ist. Daher repräsentieren perinatale Erfahrungen eine merkwürdige Kombination einer tiefen Begegnung mit dem Tod und eines entschlossenen Kampfes dafür, geboren und frei zu werden.

© Andrea Marchetti

Vielleicht sind alle grundlegenden Kulturerfindungen, vielleicht ist das ganze Bemühen des Menschen von Geburt bis zum Tod der Versuch, das „Paradies“, die verlorene Ursituation der Geborgenheit im Uterus wiederherzustellen, d.h. die Wirklichkeit so zu gestalten und zu verändern, dass er sich darin wie im Mutterschoß geborgen fühlen kann.

In meinem „Frauenbuch“ („Die Frau – der bessere Mensch. Plädoyer gegen die uralte Abwertung des Weiblichen“) habe ich unter dem Aspekt  „Herausgeschleudert aus der Einheit: Unser Leben beginnt mit einem Akt der Gewalt“ die Geburt des Menschen und seine Sehnsucht nach der Rückkehr in einen Zustand der Geborgenheit und Beheimatung mit einem Zitat von Vidya Anja Schmidt so verdeutlicht:

© Andrea Marchetti

 

„Mir ist so wohl warm, so rundherum kuschelig, feucht und gedämpft, nur ganz von fern dringen leise Geräusche an mein Ohr, es ist dunkel, und ich werde sanft herumgewiegt. Ich bin eins mit meiner vertrauten Umgebung, es gibt weder Glück noch Unglück, ich bin einfach.

Den Rest der Geschichte kennen wir ja: Irgendwann bekommt Mama ihre Wehen, und ich muss raus hier. Womöglich werde ich noch mit einem Schlag auf den Hintern begrüßt, und es ist aus mit der Einheit.

Für immer ist mir nun die Sehnsucht eingepflanzt, dahin zurückzukehren: in die Einheit, den Schoß der Mutter, ins Göttliche. Denn nachdem mir diese größte Gewalt meines Lebens angetan wurde – meine Geburt -, folgen unzählige kleinere und größere Gewalttaten aller Art“.    

© Andrea Marchetti

 

Je weiter man sich von der Geburt entfernt, je älter man also wird, um so mehr müsste man sich darum bemühen, sich mit einer neuen Geborgenheit, die durch den Tod initiiert wird, zu befassen, sich mit ihr anzufreunden und sie sich vertraut zu machen.

Das Verlassen des Mutterleibes als die Vertreibung aus dem Ur-Paradies könnte so aufgehoben und aufgefangen werden als ein Schreiten zu einem anderen „Ort“ des Geborgenseins, in einen Zustand „anderen“ Weiterlebens, wo wir uns, wenn die Seele aus dem Körper austritt, lebendiger fühlen als je zuvor.

Einer, der nach einem fast tödlichen Verkehrsunfall authentisch von seiner Jenseitserfahrung erzählt, beschreibt diese neue Beheimatung so:

„Ich habe die Wirklichkeit ohne Maske gesehen. Sie ist ein Licht bedingungsloser Liebe und universalen Wissens. Darin zu baden gab mir das Gefühl, zu Hause zu sein“.

© Andrea Marchetti

Das ABSCHIED-NEHMEN-MÜSSEN ist sicherlich ein EXISTENTIAL DES MENSCHEN, und doch braucht der Mensch unentwegt ein Dach, eine Wohnstätte, einen begrenzten Ort: Erst dann fühlt er sich zu Hause. Daheim zu sein, ein Zuhause zu haben, das heißt: über einen Grund zu leben verfügen!

Herz.lich, bis zum III. Part
Bernhard A. Grimm


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