Loslassen – Abschied – Leben (Part 1/4)

Dr. Bernhard A. Grimm

Dieser Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung von Dr. phil. Bernhard A. Grimm hier eingestellt:

Meine Lieben,

Spriritualität im Alltag zu leben, bedeutet für uns immer auch, sich ins Loslassen einzuüben. Ich erlebe dies derzeit in schmerzlicher Weise in der sehr langen Zeit der Begleitung meiner sterbenskranken Frau – aber dieses Thema stellt sich in je verschiedener Form für jedermann, alltäglich. Und diese recht mühsame Aufgabe endet erst, wenn wir uns im Sterbeprozess „genötigt“ sehen, das irdische Leben loszulassen und gegen eine rein geistige Existenz „einzutauschen“.

© Andrea Marchetti

Ich will versuchen, ein paar Gedanken zu dieser Thematik einzubringen, und beginne mit dem herrlichen Hesse-Gedicht:

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit
und darf nicht ewig trauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein
und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollten heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

© Andrea Marchetti

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise, und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde“.
(Hermann Hesse)

© Andrea Marchetti

Part I:
LEBEN HEIßT ABSCHIED NEHMEN – Reflexionen zum Loslassen

In jungen Jahren haben wir – meine Generation eben – mit Begeisterung und unentwegt gesungen: “Nun ade, du mein lieb Vaterland“ oder „Sag zum Abschied leise Servus“, oder auch „Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn, bleib nicht so lange fort, denn ohne dich ist´s halb so schön, darauf hast du mein Wort“ und – meist am Abend oder zum Abschluss einer Veranstaltung oder auf der Berghütte – mit Gitarrenbegleitung:

„Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr, die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer. … So ist in jedem Anbeginn das Ende nicht mehr weit, wir kommen her und gehen hin und mit uns geht die Zeit. Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis. Das Leben ist kein Spiel. Nur wer es recht zu leben weiß, gelangt ans große Ziel“.

© Andrea Marchetti

 

Es war wundervoll, so zu singen, aber wir haben seinerzeit noch nicht begriffen, was es bedeutet und wie schwer dies ist, dass menschliches Leben auch Abschiednehmen beinhaltet, nämlich sich unwiederbringlich von lieben Menschen zu trennen, unerfreuliche Beziehungen zu beenden, Altes und Überflüssiges abzustreifen, einen Schlussstrich zu ziehen unter verlustreiche Objekte, falsche Entscheidungen wieder rückgängig zu machen, Vertrautes loszulassen und Vergangenes aufzugeben, um fremde Ufer anzusteuern, um Neues entstehen zu lassen und entwickeln zu können.

© Andrea Marchetti

Jeder von uns hat immer wieder Übergänge zu bewältigen und sich nicht nur von liebgewordenen Gewohnheiten, sondern auch von Personen, Hoffnungen, Ideen, Lebensphasen oder Entwicklungsstadien zu verabschieden:

Leben ist stets in Fluss und Bewegung, und sich dieser Dynamik zu stellen, ist Aufgabe des Menschen dann, wenn er sich weiter entwickeln und nicht erstarren will. Das tut manchmal sehr weh und ist oftmals mit Angst und Zweifel, mit Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit verbunden, aber:

Es gibt nun mal kein Wachstum ohne Schmerz und Konflikt – es gibt aber auch keinen Verlust, der nicht zu einem Gewinn werden könnte.

„Im Grunde“, so schreibt der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, „nimmt man jeden Tag von irgendetwas Abschied, ohne es zu wissen“,

© Andrea Marchetti

 

oder darüber zu reflektieren: Mal ganz selbstverständlich, mal vergnügt und optimistisch, mal auch unter Tränen, Trauer und Schmerz, und dies von der Kindheit, von Schulzeit und Jugend, vom ungezwungenen Leben als Single oder Student, von trauter Zweisamkeit beim Eintreffen des ersehnten Nachwuchses, im Alter von den so genannten besten Jahren, zwischendrin von Gesundheit, überquellender Dynamik und Elan, von Plänen und Ideen, vom Ende des Tages oder vom Ende der Nacht bis hin zu den Jahreszeiten:

Alles ist im Wandel begriffen und nichts hat Bestand; nichts ist von Dauer, alles ist vom Fluss, von Vergänglichkeit gekennzeichnet.

Dies gilt es auch zu bedenken, wenn von Alter gehandelt werden soll. Ab wann ist man den alt? Keiner vermag darauf mustergültig zu antworten. Jedenfalls fängt Alter früh an, oder anders gesagt: Älter wird man in jedem Alter. Diese Binsenwahrheit oder Banalität muss gesagt werden dürfen, nämlich:

© Andrea Marchetti

dass persönliche, dass jede individuelle Zukunft (wirklich ausnahmslos!) Älterwerden miteinschließt.

Nun will aber doch nahezu jeder lange leben, will also Zukunft. Doch wann beginnt Zukunft? Just in dem Augenblick, in dem wir uns von der Gegenwart verabschieden, in dem die Gegenwart also zur Vergangenheit wird.

So gesehen ist Abschied das Alleralltäglichste, was ich mir vorstellen kann.

Ohne Abschied ist überhaupt kein Leben möglich.   

© Andrea Marchetti

 Ich werde dies nachher noch vertiefen. Augenblicklich sei nur gesagt, dass dieses Alleralltäglichste oft auch das Allerschmerzhafteste ist, denn in der Regel sind wir dem jetzigen Zustand verhaftet und klammern uns an ihn. Das Alter nun, näherhin das Altern, das Älterwerden ist ein permanenter, für viele ein leidvoller Ablösungsprozess, aber es gibt nun mal keine Ablösung ohne Schmerz!

Um sich freilich den Schmerz des Abschiednehmens und das Weh des Loslassens zu ersparen, müsste man sich unempfindlich machen – man müsste sich gar den glücklichen Augenblick verbieten und sich hüten, sich auf etwas einzulassen, sein Herz an etwas und an jemanden zu hängen und etwas oder jemanden wichtig zu nehmen. Man müsste es sich versagen, im Leben zu sein.

© Andrea Marchetti

Jedoch gilt uneingeschränkt:

Schmerzlose Trennung ist nur um den Preis vollkommener Gleichgültigkeit zu haben und Lebendigkeit nur um den Preis der Sterblichkeit. Denn:

Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, ist: ein wenig sterben („Partir, c´est toujours un peu mourir“).

Danke Dir sehr, lieber Bernhard, dafür, daß wir diesen Text hier von Dir lesen dürfen.

Herzlichst

Evelyn

– Mentorin auf Zeit –


3 Kommentare

  1. 1. Moni

    Kommentar vom 18. Oktober 2010 um 12:37

    Diese Seite ist ein Geschenk! Vielen Dank Herr Grimm, dass ich an Ihren Gedanken teilhaben darf. Sie geben mir Unterstützung und Zuversicht, dass ich auf meinem Weg in der Trauerhilfe richtig bin. Vielen Dank nochmals und herzliche Grüße

  2. 2. Ruth

    Kommentar vom 7. November 2011 um 12:25

    Wenn es nur nicht so schwer wäre! Meine Familie kommt auch mit: „Zeit heilt alle Wunden“. Aber das hilft mir nicht, in keinster Weise! Warum sind alle mit einemmal so anders? Ich kann das nicht verstehen. Irgendwie scheint es mir, als sei die Welt aus den Angeln gehoben. Wann hört der Schmerz endlich auf, wann nur….

  3. 3. Evelyn

    Kommentar vom 7. Dezember 2011 um 00:26

    Trauern geht zu unserem Leben, genau so wie das Lachen … Den Schmerz annehmen und die eigenen Erwartungen sehen, die verbunden waren mit dem anderen bzw. mit der Situation. Ist in meinen Augen der einzige Weg … Dann nimmt auch der Schmerz ab.
    Mutmachende Grüße
    Evelyn

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